In Lorenz Matzat trifft eine kritische Haltung auf Technikbegeisterung, diese Spannung setzt er als Journalist, Unternehmer und Aktivist um. Als Datenjournalist verfolgt Matzat das ambitionierte Ziel, die gigantischen Datenmengen, wie sie immer wieder durch Leaks verfügbar werden, journalistisch nicht nur darzustellen, sondern den Lesern direkt zugänglich zu machen. Mit seiner Firma Lokaler entwickelt er Kartenanwendungen; mit der NGO AlgorithmWatch versucht er zu verstehen, wie Algo­rithmen unser Zusammenleben be­einflussen. Mit dem Projekt Open­­-Schufa hat AlgorithmWatch die Schufa aufs Korn genommen. Die Schufa ermittelt Scores zur Zahlungsmoral fast aller Deutschen, verrät aber nicht, wie diese Bewertung zustande kommt. Die NGO fordert die Bürger*innen auf, ihre Schufa Scores einzusenden. Anhand dieser Daten versuchen Matzat und seine Mitstreiter, den Modus Operandi der Schufa zu knacken.

Ich treffe Lorenz Matzat im Büro von Lokaler und AlgorithmWatch. In einem Loft in Kreuzberg drängen sich die Schreibtische, zwischen den Rechnern türmen sich Bücher, Geräte und allerlei Krimskrams.

Alexis Walz

Mit OpenSchufa problematisiert ihr die Schufa aus technischer Perspektive und nicht etwa aus politischer. Ihr wollt herausfinden, wie sie zu ihren Scores kommt, wie ihr Algorithmus funktioniert. Wie seid ihr auf diesen Ansatz gekommen?

Lorenz Matzat

Wir haben vor gut zwei Jahren die NGO AlgorithmWatch gegründet. Ich persönlich habe mich viel mit dem Thema Daten beschäftigt, mit dem, was unter dem Stichwort Big Data lief. Dann entstand das Genre des Datenjournalismus, in dem ich mich auch betätigt habe. Da schaust du auf Bereiche, in denen Datensammlung passiert. Bei AlgorithmWatch haben wir gesagt, dass wir auf Dinge schauen wollen, die für uns selbstverständlich sind, wie etwa die Schufa. Die Schufa zeigt auch, dass es viele Datensammler jenseits von Google und Facebook gibt. Viele vergessen, dass wir auch vor Google und Facebook schon unsere Daten abgegeben haben.

AW

Was genau findet ihr an der Schufa problematisch?

LM

Die wird zwar nicht gemocht von den Leuten, aber sie ist akzeptiert, sie wird hingenommen. Die Schufa ist dabei ein harter Brocken: Sie ist politisch gut vernetzt, sie wird von den grossen Banken getragen. Wir sehen uns als zivilgesellschaftliches Forschungsinstitut. Bevor wir Forderungen stellen können, müssen wir erstmal verstehen, was die machen. Wir arbeiten uns an der Schufa seit etwa einem Dreivierteljahr ab. Da gibt es Höhen und Tiefen. Bisher liegt der Erfolg darin, dass es wieder einen Diskurs über die Schufa gibt. Wir sagen nicht, dass sie abgeschafft werden soll. Aber wir finden es aus einer demokratischen Perspektive schwierig, wie wenig sie von staatlichen oder gesellschaftlichen Einrichtungen überwacht wird und wie wenig nachvollziehbar die Verfahren sind.

AW

Was ist der rechtliche Rahmen der Schufa? Warum darf sie die Daten überhaupt sammeln?

LM

Dafür gibt es diverse Regelungen im Datenschutzrecht, im Finanzwesen. Wenn du einen Strom- oder Handy­vertrag hast, dich auf eine Wohnung bewirbst oder einen Kredit aufnimmst, erklärst du dich damit einverstanden, dass die entsprechenden Daten an die Schufa wei­tergegeben werden. Wenn du die Wohnung oder den Kredit haben willst, musst du dem zustimmen. Die Datenschutzregeln sind weich auslegbar, und die Auslegung der Schufa kann man anzweifeln. Für die Schufa ist der Datenschutzbeauftragte von Hessen zuständig, denn sie sitzt in Wiesbaden. Der ist aber mit beschränkten Mitteln ausgestattet und hat auch noch andere Aufgaben.

AW

Warum gibt es nicht mehr Widerstand gegen sie?

LM

An der Schufa ist kritisch, dass sie ein System ist, das von aussen nicht nachvollzogen werden kann. Nicht auf technischer Ebene, da funktioniert es wahrscheinlich gut, sondern ob zum Beispiel Ungleiches auch ungleich behandelt wird, was notwendig ist, um Fairness herzustellen, oder ob die Schufa diskriminiert. Das ist schwer zu beurteilen. Die eingesetzten statistischen Verfahren werden begutachtet, aber der gesellschaftliche Effekt wird nicht in Frage gestellt. Die gesellschaftliche Akzeptanz der Schufa ist da, natürlich besonders bei Leuten, die Geschäfte machen. 90% der Menschen, die die Schufa erfasst, haben mit ihr auch keine Probleme.

AW

Wie sehen die Probleme der übrigen 10% aus?

LM

Wir haben den Eindruck, dass die meisten Menschen nicht wissen, dass die Schufa keine staatliche Einrichtung ist. Dabei handelt es sich um ein privatwirtschaftliches Unternehmen. Es gibt auch noch fünfzig weitere Anbieter ähnlicher Dienst­leistungen, Arvato von Bertelsmann etwa oder Kreditreform. Besonders im Onlinehandel sind auch zweifelhafte Unternehmen unterwegs. Du kannst davon ausgehen, dass Amazon sein eigenes Scoring macht und dir z.B. entsprechende Zahlarten zur Verfügung stellt. Das passiert überall, dass dein sogenanntes Wohlverhalten gemessen und bewertet wird und darüber automatisiert Empfehlungen ausgesprochen werden. Ein schlechter Schufa-Eintrag kann nicht nur ein Problem sein, wenn du etwas kaufst, leihst oder mietest. Wenn du z.B. im Finanzwesen arbeiten willst, musst du einen positiven Schufa-Eintrag haben. Wir haben von einer Person gehört, die eine Jobzusage in einer Versicherung hatte. Ein WG-Mitbewohner von ihr hatte aber den Strom nicht gezahlt, der auf ihren Namen angemeldet war; deshalb hat sie den Job nicht bekommen. Deine Karriere kann dann von etwas abhängen, was sich eine private Firma ausgedacht hat. Andere kriegen zum Beispiel keinen Mietvertrag.

AW

Es gibt einen Artikel eines Journalisten vom Spiegel, der aufgrund eines fehlerhaften Schufa-Eintrags seine Wohnung nicht bekommen hat.

LM

Der wurde in der Datenbank der Schufa zweimal geführt. Wie wir es bislang verstanden haben, gibt es keine Überprüfung der Datensätze von aussen, nur eine Untersuchung der Rechenverfahren. Und jetzt wurde bekannt, dass die Schufa diese Gutachter selbst bezahlt.

AW

Was, vermutest du, sind die grössten Fehler, die die Schufa bei ihrem Scoring macht?

LM

Das wissen wir nicht, das versuchen wir ja herauszufinden. Die Befürchtung ist, dass es eine subtile Diskriminierung gibt. Bestimmte soziologische Vorurteile oder Annahmen der Leute, die diese Modelle bauen, könnten Auswirkungen auf die Bewertung haben. Die leitet sich auch aus einer Haltung ab, die irgendjemand hat. Dadurch könnten bestimmte Lebensformen abgewertet werden. Ob das der Fall ist, wissen wir nicht, weil die Schufa nur sehr verklausuliert angibt, was für Daten sie berücksichtigt. Manche Dinge sind ihr untersagt worden. Sie darf zum Beispiel nicht mehr den Wohnort berücksichtigen.

AW

Der Wohnort sagt viel über deinen Wohlstand aus. Wird der berücksichtigt, wirst du durch dein Wohnumfeld auf- oder abgewertet.

LM

Wir haben versucht zu gucken, ob wir in den Daten indirekte Effekte sehen können. In Norddeutschland ist das Einkommen niedriger als im Süden, deshalb haben wir versucht, anhand des Rankings zu berechnen, wo die Person wahrscheinlich lebt. Da hat uns aber die Datenschutzgrundverordnung in die Suppe gespuckt. Durch sie sind die Bürger*innen in vielen Europäischen Ländern besser geschützt. In Deutschland waren die Regelungen aber schon vorher vergleichsweise streng. Deshalb mussten hierzulande Abstriche gemacht werden, um sich an den neuen Europäischen Standard anzupassen. Wir wissen noch nicht, ob das Zufall ist oder auf Lobbyarbeit zurückgeht. Jedenfalls ist die Auskunftspflicht jetzt geringer als früher. Daher können wir weniger gut aus grossen Datenmengen Zusammenhänge ablesen. Die Dokumentation der Schufa ist kryptisch, was unserer Meinung nach der Datenschutzgrundverordnung widerspricht, aber das ist streitbar.

AW

Wie redet sich die Schufa heraus?

LM

Die Schufa argumentiert, dass sie nichts entscheidet, sie errechnet nur den Score. Erst der Kunde, die Bank etwa, setzt ihn ein. Die Schufa handelt nicht danach, deshalb muss sie auch nicht erklären, wie er funktioniert. Das Witzige ist, dass der Kunde, die Bank etwa, dann sagt: Wir haben den Score nicht errechnet – wir müssen ihn auch nicht erklären. Das kann man als Winkelzug lesen oder eine Regulierungslücke darin sehen.

AW

Wie steht die Schufa im internationalen Vergleich da?

LM

Die Freie Universität Berlin hat eine Umfrage zum Citizen Scoring in China gemacht. Laut dieser Umfrage sind dem gegenüber viele Chinesen positiv eingestellt. Meine Erklärung dafür wäre, dass die wachsende Mittelschicht dort wie jedes Bürgertum historisch Rechtssicherheit haben will. Das Scoring-Verfahren dient dazu und stösst deshalb auch auf Akzeptanz. In China gibt es nichts Vergleichbares wie die Schufa und keine Rechtssicherheit. Die Gerichte unterstehen dem Willen der Partei. Hier in Deutschland wird das Citizen Scoring nur unter dem Orwellschen Aspekt betrachtet, dort wird es als Fortschritt angesehen, auch weil es transparent ist. Und offenbar gibt es in China sehr viele Zahlungsausfälle. Das ist auch etwas Kulturelles: In Schweden steht jeder Einkommenssteuerbescheid im Netz und ist dort allgemein zugänglich.

AW

Die Schufa wirkt gegenüber dem Citizen Scoring oder den Aktivitäten von Facebook und Google mit ihrem Fokus auf den Zahlungsverkehr fast puristisch.

LM

Die Schufa versucht auch neue Produkte zu entwickeln, sie wollte z.B. mit dem Hasso-Plattner-Institut in Potsdam Social-Media-Accounts auswerten. Da gab es eine grosse öffentliche Empörung, dann haben sie es geknickt. Du weisst nicht, was Firmen machen, die nicht in der EU ansässig sind, die fallen nicht unter die hier geltenden Rechtsvorschriften. Und im Netz ist der Standort egal. Dass überall Daten abgesaugt werden, ist bekannt. Auf vielen Seiten werden schon anhand deines Gerätefingerabdrucks und weiterer Merkmale Profile angelegt.

AW

Zumindest in der Kreditwirtschaft hat die Schufa fast ein Monopol. Kann sie das halten?

LM

Im Bereich der Fintech, der financial technology, gibt es viele Start-Ups und Investments. Da pflegst du dein Konto nur noch über eine App. Die Commerzbank wurde von dem Zahl­abwickler Wirecard aus dem Deutschen Aktienindex verdrängt, auch weil sie dieses Thema verschlafen hat. Aus diesem Kontext gibt es auch Versuche, alternative Scores zu entwickeln. Amazon könnte der Schufa Konkurrenz machen, indem sie ihre Daten verkaufen. Die Schufa hat den Vorteil, dass sie ins Bankensystem integriert ist, weil sie auch den Banken gehört.

AW

Wie kommt ein neuer Anbieter an die Daten? Er muss ja die Banken, Versicherungen oder Händler überzeugen, Daten rauszugeben. Er kann aber keine eigenen Daten anbieten.

LM

Der kauft die Daten. Die kannst du in Teilen legal kaufen, vom Versandhändler Otto zum Beispiel. Bei DHL kannst du die Information kaufen, wie viele Pakete an unseren Häuserblock hier geliefert werden. Wenn du diese Datensätze mit anderen verschränkst, kannst du damit interessante Profile aufbauen. Es gibt auch einen grossen Grau- und einen grossen Schwarzmarkt. Viele Leute versuchen mit Daten Geld zu verdienen.

AW

Wie sehen die Anwendungen jenseits der Zahlungssicherheit aus?

LM

Meistens geht es um die Information, ob jemand etwas kaufen will oder nicht. Damit verdienen sich Google und Facebook dumm und dämlich. Warum sollten da nicht auch Skrupellose dabei sein, die damit Schindluder treiben? Immer wieder liest du, dass eine grosse Datenbank geknackt wurde. Über uns haben Leute wahrscheinlich in grossen Datensätzen Informationen, von denen wir gar nicht wissen, dass es sie gibt. Wenn du schlau und skrupellos bist, kannst du damit wertvolle Dinge tun. Da werden wir nie etwas davon mitbekommen, da wird auch kein Datenschutzbeauftragter etwas davon mitbekommen, weil das auf einem Server auf den Philippinen oder in Russland passiert.

AW

Was wäre ein besserer Weg, die Aufgaben der Schufa zu lösen? Sollte sie eine staatliche Einrichtung sein?

LM

Wir wollen erstmal mehr verstehen, bevor wir Forderungen stellen. Unter diesem Vorbehalt könnte ich mir vorstellen, dass die Schufa sich mehr gegenüber der Forschung öffnet, dass sie unter gewissen Bedingungen erlaubt, dass sich andere mit ihren Daten auseinandersetzen. Die Schufa ist ein Mittler in verschiedenen Bereichen unserer Gesellschaft: Im Bankenwesen, im Wohnungswesen, im Handel. Muss da die Gesellschaft nicht stärker eingebunden sein?

AW

Wie könnte die Gesellschaft intervenieren?

LM

Man könnte auch über die Schufa Leute fördern. Leute, denen es wirtschaftlich schlecht geht, könnten durch die Schufa eine Chance bekommen. Das ist die Frage der Fairness. Zurzeit wird Ungleiches gleich behandelt bei der Schufa. Egal, ob du aus einem wohlhabenden Elternhaus kommst oder deine Eltern in der dritten Generation arbeitslos sind: Die Schufa behandelt dich gleich. Soziale Förderung könnte so aussehen, dass jemand, dessen Eltern kein Eigentum haben, Pluspunkte bekommt.

AW

Bisher schützen dich wohlhabende Eltern mit ihrem Geld vor einem schlechten Score, zugleich können sie dir beibringen, wie man mit Geld umgeht.

LM

Genau. Ich fände eine Zusammenarbeit mit der Gesellschaft interessant. Es muss nicht gleich der Staat sein. Darüber würde ich gerne sprechen. Das ist der Grund, warum wir uns mit der Schufa beschäftigen. Nicht, weil wir sagen, die Schufa ist blöd oder schlimm. Für die meisten funktioniert sie problemlos, es gibt aber immerhin 6 bis 7 Millionen Menschen, die haben mit ihr zu kämpfen. Und nicht bei allen von ihnen ist das selbstverschuldet.

AW

Es wäre auch ein Geschäftsmodell zu sagen: Unsere Waren und Dienstleistungen sind zwar teurer, aber dafür geben wir die Kundendaten nicht raus.

LM

Das macht ja Apple. Die haben erkannt, dass das Thema wichtig ist. Apple muss deine Daten nicht verkaufen, sie verkaufen dir schon Geräte. Deshalb kann Apple sich das im Gegensatz zu Google auch leisten. Eine andere Alternative wäre auch, aus dem Label OpenSchufa ein komplett transparentes Reputationssystem zu machen. Du kannst deinen Schufa-Score erfragen und ihn privat ins Netz stellen. Wenn das 30 Millionen Leute machen, wäre das ein Anfang. Dann wird dieser Score öffentlich weiterentwickelt. Wenn jemand eine Info über dich haben will, wirst du gefragt, und du kannst sie freigeben oder nicht. Bei der Schufa kannst du nicht sagen, dass du das nicht willst.

Alexis Waltz ist Kulturwissenschaftler und Journalist. Besonders interessiert er sich für elektronische Musik, aber auch für die Geschichte der Gegenkulturen und Avantgarden, Kultur und Politik der USA, die Geschichte der Arbeit und die Geschichte der Geschlechter. Seine Texte sind in Groove, Spex, taz oder in der Süddeutschen Zeitung zu lesen und wurden ins Englische, Russische, Polnische und Französische übersetzt. 

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