Immer wieder wird heutzutage in einer selbstverständlichen Absolutheit von dem Echten, dem Wahren, dem Authentischen gesprochen. Wir leben scheinbar in grossartigen Zeiten, einer Zeit der wahren Ursprünglichkeit und des unverstellten Seins.

Wir entspannen im Floating Tank, um uns wie ein ungeborenes Baby zu fühlen. Wir bauen neue Häuser, die wie alt aussehen sollen, damit sie in dieses europäische Lebensgefühl auch wirklich vermitteln. Wir applaudieren Politikern, die einfach mal Klartext sprechen uns sich nicht um politische Korrektheit kümmern. Wir unterstützen Medienprojekte, die nicht endlich mal nicht Fake sind. Und gehen ins Theater, das kein Theater, sondern beinahe Realtiät sein soll. Unsere Fotografien, posten wir 2017 nicht mehr mit Sepia im Retro-Look sondern authentisch, so wie es halt war. Dazu hören wir Musik von Sängerinnen, die ihre Songtexte noch selbst schreiben oder von Rappern, immer noch «true to the game» sind. Nur eine richtig gute Tomatensauce kann man mit den Tomaten hier nie hinkriegen.

Das Bedürfnis nach authentischen Erfahrungen an sich ist nicht ungewöhnliches. Bereits Entdecker, Pioniere und heute auch Touristen wollen die aus Handel, Erzählungen und Prospekten verheissenen Welten mit eigenen Augen erfahren. Doch während solche echte Erlebnisse lange Zeit nur Abenteurern und Aussteigern vorbehalten waren, sind sie heute zu einem Massenphänomen geworden. Mit den Verdiensten der Gegenkultur der 68er-Jahre, der Befreiung von den gesellschaftlichen Zwängen kam auch der Boom der Selbstentfaltung und Selbstoptimierung. Und mit dem Boom kamen auch die Anleitungen, Magazine, Kurse und Werbungen dazu.

Seither hat jede weitere Generation ihre eigenen Anleitungen entwickelt und weiterentwickelt, wodurch und wie sie ihre Kernidentität schützt und sich vor der Vereinnahmung durch die Masse schützen will. Wie auch andere Genres wie Punk, Grunge oder Folk befand sich auch Hip-Hop Ende der 1980er Jahre plötzlich mitten in dem Mainstream der zeitgenössischen Kultur, obwohl es sich davon explizit abgrenzen wollte. Um diese Identität der Gegenkultur zu bewahren, wird das Konzept der Authentizität, die «Realness», beinahe wie ein Mantra wiederholt.

Es ist zum höchsten Ziel geworden, sich selbst treu zu sein und keine Kompromisse einzugehen. Dass hat längst auch die Werbeindustrie erkannt, die uns mit zahlreichen Ideen auf dem Weg zu unserem wahren Selbst helfen will. Während die Aussteiger in den 60er Jahren dafür Weg aus den gesellschaftlichen Konventionen wählten ist es heute ein Trend, sich auf Instagram als Aussteiger im VW-Bus zu inszinieren. Und so ganz nebenbei noch für #kettlechips die «Allianz» mit einem globalen Chipshersteller zu erwähnen. Der Kult um die reine Lehre wird zum strategischen Kalkül.

Paradoxerweise hat gerade die mit der Digitalisierung gefeierte Vernetzung dazu geführt, dass wir uns doch nicht so authentisch fühlen, wie wir bis anhin dachten. Die neue Nähe verführt, sie lässt uns aber gleichzeitig auch an der Authentizität zweifeln und verzweifeln. Wir mussten feststellen, dass da draussen jemand nicht nur das Ketchup selbst herstellt, sondern sie auch noch die Tomaten selbst züchtet. Der Wettbewerb ist härter geworden, und wer mal nicht mitmachen will oder kann bei #abscheck oder #vanlife, der kann dann eben doch nicht gleich authentisch sein. Denn authentisch sein ist leicht, wenn eine positive Grundstimmung vorliegt. Authentisch zu sein, wenn man am Boden zerstört ist und sich am liebsten in eine Ecke verkriechen möchte, klingt dagegen wie blanker Hohn. Insofern ist auch die Aufforderung nach authentischem Leben wieder nur eine Aufforderung zur Performance. Und verkommt so oft zur leeren Floskel.

Ivan Sterzinger ist ein ehemaliges Redaktionsmitglied der Fabrikzeitung.

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