Andrej Holm verbindet wie kaum jemand in Deutschland wissenschaftliche Forschung und politischen Aktivismus. Als Soziologe erforscht er die Gentrifizierung und die Wohnungspolitik in Berlin. Nach dem Mauerfall wurde er Teil der Hausbesetzerszene in Ostberlin. 2007 verbrachte Holm wegen eines haltlosen Verdachts wegen Bildung einer terroristischen Vereinigung drei Wochen in Untersuchungshaft. Eine Reihe namhafter Soziologen, unter anderem Richard Sennett und Saskia Sassen, setzten sich für seine Freilassung ein. Im Dezember 2016 wurde er zum Staatssekretär für Wohnen von der rot-rot-grünen Berliner Regierung berufen. Die anderen Parteien und die Medien konnten es Holm aber nicht nachsehen, dass er mit 17 eine Ausbildung zum Stasi-Offizier begonnen hatte, und so kehrte er wenig später in die Wissenschaft zurück.

 

Die explodierenden Immobilienpreise in den deutschen Großstädten erzeugen eine neue Klassentrennung: geringe und durchschnittliche Einkommen reichen nicht mehr dazu aus, sich eine Wohnung oder ein Haus zu kaufen. Entweder man bringt das Kapital aus der Familie mit oder man muss als Mieter letztlich damit rechnen, aus der Innenstadt verdrängt zu werden wie in Manhattan, in Paris oder in London.

Holm: Wohnungsnotsituationen gab es schon immer, vor allem für die Haushalte, die ganz unten sind. Wenn du von Transferleistungen abhängig bist und bestimmte Restriktionen des Jobcenters akzeptieren musst, dann war es auch vor zehn Jahren in Berlin nicht leicht, eine Wohnung zu finden. Neu ist aber, dass es selbst mit durchschnittlichen Einkommen zur Herausforderung wird, Wohnwünsche zu erfüllen oder überhaupt eine Wohnung zu bekommen. Die Mietbelastungsquoten liegen bei den Geringverdienern bei 30%, 40%, 50% und in Ausnahmefällen bei 60% des ohnehin schon geringen Einkommens. Da bleibt wenig zum Leben übrig. „Miete frisst Leben auf.“ ist da schon immer die Realität. Jetzt werden hohe Mietbelastungen und Angst zur Verdrängung zur Alltagserfahrung von vielen.

 

Wie viele Menschen sind davon betroffen?

Holm: Wir haben Studien in Städten mit mehr als 100.000 Einwohnern gemacht, unter den Mietern mit geringen Einkommen haben da 40% der Haushalte eine Mietkostenbelastung von über 30% zu tragen, was eigentlich so die Grenze der Leistbarkeit ist. Das sind allein in den Großstädten mehr als 5 Mio. Haushalte. Jeder sechste Haushalt gibt sogar über 40% für die Miete aus. Wohnen ist nicht nur teurer geworden, sondern es ist vor allem schwerer geworden, überhaupt eine Wohnung zu finden. Ein Blick in die Wohnungsangebote zeigt, dass heute in der traditionellen Mieterstadt Berlin mehr Eigentumswohnungen als Mietwohnungen angeboten werden. Das verstärkt sich dann noch in innerstädtischen Quartieren, die besonders beliebt sind, in Berlin-Kreuzberg etwa und in Teilen von Neukölln. Bei den hohen Kaufpreisen reicht selbst ein hohes Einkommen oft nicht aus, um den Kredit zu finanzieren. Hier wird das Vermögen, das aus der Familie mitgebracht wird, immer mehr Voraussetzung dafür, überhaupt an eine Wohnung zu kommen.

 

Auch Durchschnittsverdiener sind dadurch verurteilt Mieter zu bleiben.

Holm: Genau. Du brauchst das familiäre Vermögen.

 

Da tut sich eine Klassenkluft auf. Soziale Mobilität geht verloren.

Holm: Die Klassenkluft reproduziert sich im Wohnungsbereich nicht nur, sondern wird auch noch vertieft. Städte mit hohen Mieten sind regelrechte Motoren der Umverteilung von unten nach oben. Die steigenden Mietbelastungen der Mehrheiten finanzieren die Wertsteigerungen und Renditen von wenigen.

 

Bei den rapide steigenden Preisen und den Immobilienspekulationen muss jeder damit rechnen, aus der Innenstadt verdrängt zu werden.

Holm: Nicht nur aus der Innenstadt. In Berlin gibt es in allen Bezirken mit einigen wenigen Ausnahmen wie Spandau oder Reinickendorf einen Wohnungsmangel. Und unter allen Nicht-Privilegierten gibt es eine massive Konkurrenz um den kargen Rest an halbwegs bezahlbaren Wohnungen. Dazu kommt eine institutionalisierte Diskriminierung von Seiten der Vermieter. Sobald Vermieter mehrere Wohnungsbewerber haben, müssen sie aussuchen. Das Kriterium ist da nicht, den ärmsten Schlucker oder den mit der kompliziertesten Biographie zu nehmen. Da ticken Vermieter relativ einheitlich, egal ob es Genossenschaften oder private Vermieter sind. Die lassen sich die Einkommensnachweise und die Schufa-Auskunft vorlegen. Unter denen, die eh schon benachteiligt sind, gibt es nochmal eine Benachteiligung der ganz Schwachen. Da entsteht ein Stufensystem der Ausgrenzung.

 

Der Freiberufler steht schlechter als der Festangestellte, der Single ist besser als die Familie, der Deutsche besser als der Migrant.

Holm: Zur rassistischen Diskriminierung unter Vermietern gibt es eine Reihe von Studien. Die gehen oft einfach nach den Namen. Es gibt auch Studien, die gezeigt haben, dass es eine Diskriminierung von Transferleistungsempfängern gibt. Das hat in Deutschland damit zu tun, dass zusätzliche Genehmigungen eingeholt werden müssen, wenn die Miete vom Amt übernommen werden soll. Der Behördenweg dauert aber so lange, dass fast immer ein anderer Bewerber vorgezogen wird.

 

Wie konnte sich die Wohnungsnot in den deutschen Großstädten so zuspitzen?

Holm: Zum Teil sind das Effekte einer neoliberalen Orientierung und der Aushöhlung der wohlfahrtsstaatlichen Wohnungspolitik. Neben der Kürzung der Fördergelder im sozialen Wohnungsbau, der Abschaffung der Gemeinnützigkeit ist da vor allem die massive Privatisierung öffentlicher Wohnungen zu nennen. Vor allem die Privatisierungsextase der vergangenen Jahrzehnte hat dabei ein völlig neues Marktsegment hervorgebracht und es den institutionellen Anlegern überhaupt erst ermöglicht, riesige Immobilienportfolios aufzubauen. Börsenorientierte Wohnungsunternehmen und internationale Investorenkonsortien verwalten inzwischen mehr als 2 Mio. Wohnungen in den Städten. Das Wohnen selbst verwandelt sich so in ein finanzwirtschaftliches Anlageprodukt. Der Wohnungsbau wurde auch früher finanziert, durch die neue Entwicklung wird aber der gesamte Wohnungsbereich, auch die Vermietung, einer finanzwirtschaftlichen Rationalität unterworfen. Da herrschen andere Bedingungen als bei einem Vermieter, der ein langfristiges Interesse an dem Gebäude hat, der vielleicht das Auskommen der nachfolgenden Generation sichern will. Heute geht es in der Immobilienwirtschaft darum, in zehn Jahren einen Cashflow zu realisieren oder die Dividenden für ein börsennotiertes Unternehmen sicherstellen. Da gibt es einen ökonomischen Zwang zur dauerhaften Steigerung der Einnahmen, die es bei einem privaten Vermieter nicht gibt. Es wird modernisiert, in Eigentumswohnungen umgewandelt, Mieterhöhungsspielräume werden gnadenlos ausgenutzt. Die Deutsche Wohnen akzeptiert als größter deutscher Vermieter nicht einmal den Mietspiegel, obwohl der eigentlich ein vermieterfreundliches Instrument ist.

 

Warum kann da die Mietpreisbremse kaum etwas ausrichten?

Holm: Die Mietpreisbremse besagt, dass die Neuvermietungsmieten maximal 10% über der ortsüblichen Vergleichsmiete liegen dürfen. Schon im Gesetz gibt es eine Reihe von Ausnahmen, Neubauwohnungen etwa. Für möblierte Wohnung gibt es keine Mietpreisbremse, ein Schrank im Flur bietet da schon eine Umgehungsmöglichkeit. Gewinnorientierte Vermieter finden da immer eine Lücke, auch wenn die Mietpreisbremse verschärft wird.

 

Warum kann die Politik nicht auf die Interessen der Bürger reagieren?

Holm: Grundlage war wie gesagt das, was wir spätestens seit Anfang der neunziger Jahre als neoliberalen Zeitgeist kennen. Der beinhaltet eine kulturelle Abwertung staatlichen Handelns. Versteckt hinter einem „Wollen wir nicht alle ein bisschen mehr Freiheit genießen?“ wurde das staatlich Organisierte als bürokratisch und ineffizient gebrandmarkt und aus der Gesellschaft zurückgedrängt. Im Wohnungsbereich war diese Entwicklung in vielen Städten an eine Situation gekoppelt, in der es ein Überangebot von Wohnungen gab. In Ostdeutschland ging die Bevölkerung sogar vielerorts zurück und viele Wohnungen standen leer. Das Verschwinden des Staates wurde deshalb nicht sofort in seinen Konsequenzen sichtbar. Dieses Überangebot an Wohnraum gibt es heute nicht mehr. Und in Städten wie Berlin oder Leipzig gab es keinen ökonomischen Anreiz für privaten Wohnungsbau, weil die Mieten so niedrig waren. 2003 wollte kein Investor Wohnungen bauen, die er für 10 oder 11 Euro Monatsmiete pro Quadratmeter auf einem Markt vermieten muss, wo Bestandswohnungen für 6 bis 8 Euro zu haben sind.

 

In deinem Buch „Mietenwahnsinn“ rechnest du vor, dass eine Neubauwohnung schon für einer Miete von unter 5 Euro finanziert werden kann. Waren die Wohnungen wirklich nicht bezahlbar oder bloß nicht gewinnbringend?

Holm: Das ist ein Dauerstreit. Die Miete, durch die eine Wohnung finanziert wird, hat zwei Komponenten. Zum einen sind da die realen Kosten, die für das Grundstück, den Bau und Nebenkosten gezahlt werden müssen, zum anderen muss der Weg berücksichtigt werden, wie die Ausgaben finanziert werden. Je länger der Finanzierungszeitraum ist, desto geringer kann der Mietpreis sein. Eine Genossenschaft sagt: Ich will gar nicht, dass die Wohnung in 25 oder 30 Jahren refinanziert ist, mir reicht es, wenn die Kredite erst nach 50 oder 75 Jahren zurückgezahlt sind. Dann sinkt natürlich der monatliche Betrag, der man dafür bezahlen muss. Verzichtet ein Bauträger dann auch noch auf die Eigenkapitalverzinsung, wir es noch günstiger. Wirtschaftlich agierende Unternehmen rechnen damit, dass man nach 20, spätestens 25 Jahren die Kosten refinanziert hat. Deshalb ist es ein entscheidender Punkt, ob man es mit einem privaten Bauherrn oder einem nicht profitorientierten Bauherrn zu tun hat. Ohne Profitinteresse kann man schon für weniger als 5 Euro Wohnungen bauen, da gibt es aber keinen Gewinn, deshalb machen das privaten Bauherren nicht.

 

Das kommunale Bauen wäre für die Mieter*innen viel lukrativer.

Holm: Das ist es auch.

 

Warum setzt es sich nicht durch?

Holm: Im Moment haben wir das Problem, dass die Grundstücke Spekulationsobjekte sind und dadurch so teuer, dass preisgünstiger Wohnungsbau auch mit langfristigen Krediten kaum bezahlbar ist. Da ist staatliches Eingreifen gefragt. Statt einer Mietpreisbremse brauchen wir eine Bodenpreisbremse, um Non-Profit-Unternehmen das Bauen zu ermöglichen. Bei vielen Genossenschaften gibt es noch einen zweiten Grund für das zögerliche Neubauengagement. Sie sind als Genossenschaften den Interessen der Mitglieder verpflichtet. Wenn die aus den Bewohnern des gegenwärtigen Bestands von Wohnungen bestehen, ist die Bereitschaft Geld auszugeben, um mehr Wohnungen zu bauen, nicht so ausgeprägt. Die Mitglieder wollen lieber ihre Miete senken oder die Bestände sanieren als in Neubauprojekte investieren. Das ist ein strukturelles Problem der Genossenschaften.

 

Wie kann man das Lösen?

Holm: Durch gemeinnützigen Wohnungsbau. Deren Verpflichtung gilt nicht denen, die schon dort wohnen, sondern der Gemeinheit. Dieses gemeinnütziges Wohnen müsste man lokal definieren und fragen: welche Wohnungen werden in unserer Stadt gebraucht und für wen? Der gemeinnützige Wohnungsbau wird durch Steuererleichterungen finanziert, da er zum Beispiel Wohnraum für Migrant*innen oder Alleinerziehende bereitstellt. Wenn man die Mehrwertsteuer für alle baubezogenen Kosten erlassen würde, könnte man in Kombination mit stabilen Grundstückspreisen und einem Verzicht auf eine Eigenkapitalverzinsung statt auf eine Neubaumiete von 10 Euro auf eine Miete von 5 Euro kommen. Der Gedanke der Gemeinnützigkeit wäre mit den unterschiedlichen Mehrwertsteuersätzen im Lebensmittelhandel vergleichbar. Grundnahrungsmittel schlagen nur mit 7% zu buche und nicht mit 19%. Eine solche Steuererleichterung würde es dem gemeinnützigen Wohnungsbau ermöglichen, günstigen Wohnraum für Bedürftige zu erstellen.

 

Wo liegen da die politischen Hindernisse?

Holm: Zum einen ist die Gemeinnützigkeit im Wohnungsbau auf Betreiben von CDU/CSU 1989 noch vor der Wende abgeschafft worden. Sie wieder einzuführen wäre eine politische Entscheidung, gegen die die privatfinanzierte Wohnungswirtschaft verbissen kämpfen würde. Mit einer gemeinnützigen Wohnung kann man kein Geld verdienen. So kämpft ein großer Lobby-Apparat gegen den gemeinnützigen Wohnungsbau. Die Idee der Gemeinnützigkeit wird auch schnell als Staatsozialismus 2.0 verunglimpft, obwohl wir in anderen Bereichen, bei Kulturträgern etwa Gemeinnützigkeit als völlig normale Organisationsformen kennen.

 

In Berlin sind im sozialen Wohnungsbau die Mieten oft teurer als vergleichbare kommerzielle Angebote. Warum ist das so?

Holm: Man muss den geförderten Wohnungsbau, der sich zu Unrecht sozialer Wohnungsbau nennt, als eine Form Wirtschaftsförderung verstehen. Private Wohnbauträger erhalten Geld vom Staat, mit denen sie Wohnungen finanzieren. Im Gegenzug versprechen Unternehmen, für einen beschränkten Zeitraum von 20 oder 25 Jahren eine soziale Mitpreisbindung zu garantieren. In diesem Fördersystem wird zum einen sichergestellt, dass es eine Eigenkapitalverzinsung von 4% bis 6% gibt, die abhängig ist von den Gesamtkosten des Baus. Dieses Fördermodell übernimmt die unrentierlichen Kosten und sichert die privaten Gewinne. Der Gewinn hängt dabei von der Höhe der Gesamtkosten ab.

 

So geraten die Kosten außer Kontrolle.

Holm: Die Träger haben ein Interesse an möglichst hohen Kosten. In Westberlin kamen durch die Berlinförderung, die die Existenz der „Freien Insel im Roten Meer“ sichern sollte, Steuerabschreibungsanreize für die Investitionen dazu. So gab es gleich eine zweifache Motivation, hohe Kosten zu produzieren. Die Bauwirtschaft war mit den Immobilienentwicklern netzartig verflochten. Sie stellte die hohen Rechnungen aus, weil sie wusste, dass sie niemand wehtaten. Die staatliche Kostendeckung, die die soziale Miete garantiert, nimmt aber Jahr für Jahr ab. Die Eigentümergewinne bleiben garantiert und die steigende Sozialmiete gleicht die Lücke aus. Deshalb spiegeln die hohen Sozialmieten von heute die künstlich aufgeblähten Baukosten der Vergangenheit wider. Weil die Mietpreise auf dem freien Markt zeitweise nicht gestiegen sind, sind die Angebote im sozialen Wohnungsbau oft teuer als Wohnungen auf dem freien Markt. Dagegen protestieren Initiativen wie Kotti & Co.

 

Was soll nach den 20 oder 25 Jahren passieren, wenn die Mitpreisgarantie ausläuft? Die Stadt müsste immer wieder neue Wohnungsbauprojekte finanzieren.

Holm: Genau, das ist eine absurde Regelung, die sich von allen mir bekannten Förderprogrammen in Europa unterscheidet. Wenn andere Staaten so massiv Wohnungsbau fördern, dann, um einen eigenen Bestand von Sozialwohnungen aufzubauen. Die deutschen Modelle stammen aus den fünfziger Jahren. Da hat man nur zähneknirschend akzeptiert, dass der freie Markt die Wohnungsnot nach dem Krieg nicht lösen kann. Man hat gesagt: hier muss der Staat eingreifen, aber nur vorübergehend. Aus diesem Gedanken sind auch die späteren Programme entstanden. Sie gehen von der nie erfüllten Hoffnung aus, dass es der Markt schon richten wird. Bloß noch nicht heute. Wir wissen natürlich, dass private Investoren immer von einet soziale Blindheit geprägt sein werden, dass es sich für niemanden lohnt, für die Ärmsten der Gesellschaft Wohnungen zu bauen. Die staatliche Intervention ist eine Daueraufgabe. Diese Tatsache hat man aber immer verdrängt.

 

Eine Alternative zum öffentlichen Sozialen Wohnungsbau ist da kaum vorstellbar.

Holm: Die FDP oder Verbände der Immobilienindustrie wollen, dass das Wohngeld gesteigert wird. Man will schon, dass der Staat finanziert. Es soll aber keine sozialpolitische Maßnahme, sondern eine Wirtschaftsförderung sein.

 

Die Immobilienwirtschaft will sich beim Staatshaushalt bedienen.

Holm: Genau. Wenn der Staat sagt: ich mache es selber, verschwindet diese Möglichkeit. Über Kosten für die Unterkunft und für Wohngelder fließen Jahr für Jahr 17 Milliarden über die Mietzahlungen der Mieter an die Immobilienwirtschaft. Die Wohnungsbauförderung liegt bei 1,5 Milliarden. Mit diesem Betrag von 18,5 Milliarden könnte man ein riesiger Bestand von mietpreisgebundenen Wohnungen aufbauen.

 

Wie wäre der Übergang zu einem solchen Modell möglich?

Holm: Natürlich kann man nicht den Bedürftigen das Wohngeld streichen. Aber die Gelder für die Wohnbauförderung sollten nicht mehr als Wirtschaftsförderung mit sozialer Zwischennutzung ausgegeben werden, sondern in den Aufbau eines dauerhaften Bestandes gesteckt. Zu den 1,5 Milliarden könnten noch die 2 bis 2,5 Milliarden aus dem Baukindergeld kommen und 6 Milliarden aus den Steuerverzichten zugunsten privater Eigentümer. Allein schon für diese 6 Milliarden Euro ließen sich pro Jahr 100.000 dauerhaft nutzbare Wohnungen mit einem Mietpreis von 5 Euro errichten.

 

Wie kriegt man die überhöhten Grundstückspreise in den Griff?

Holm: Das ist im Neubau einfacher als im Bestand. Wenn Baugenehmigungen vergeben werden, kann die Kommune Widmungspreise festlegen und sagen: Wir möchten, dass hier auf dem Gelände zu einem bestimmten Anteil sozialer Wohnungsbau entsteht. In Österreich sind mehrere Städte so vorgegangen. In Berlin könnte so mit den alten Bahnflächen verfahren werden. 2/3 werden für den sozialen Wohnungsbau reserviert, und der Höchstpreis liegt bei 350 Euro pro qm2 und nicht bei 1000 oder 2000 Euro. Für den Grundstücksbesitzer wäre die Baugenehmigung immer noch sehr lukrativ.

 

Was hindert die Stadt ein solches Modell umzusetzen?

Holm: Angst vor Klagen, der Lobbyismus. Das sind massive Eingriffe ins Eigentumsrecht. Diese Idee muss sich politisch im Bewusstsein noch stärker durchsetzen. Inzwischen wird aber schon in der SZ und der FAZ diskutiert, dass in der Bodenfrage der Schlüssel der Stadtentwicklung liegt. Man darf heute immerhin schon davon reden, ob der Boden kein Gut wie jedes andere ist, das man zu Höchstpreisen verkaufen kann.

 

2016/17 warst du kurzzeitig Staatssekretär in der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Wohnen der rot-rot-grünen Landesregierung von Berlin. Wie hast du da diese Ziele verfolgt.

Holm: Es gibt eine starke mietenpolitische Protestbewegung in Berlin …

 

In der du schon lange aktiv bist.

Holm: Ja. Seit 2010, 2011 haben wir eine ganze Reihe von pragmatischen Reformvorschlägen entwickelt für den sozialen Wohnungsbau, für eine andere Liegenschaftspolitik, für neue Förderprogramme, für den Mieter- und Milieu-Schutz. Ein Großteil dieser Vorschläge sind als abstrakte Ziele sind in den Koalitionsvertrag eingehandelt worden. Ich habe meine Aufgabe darin gesehen, diese Ziele so weit wie möglich im Sinne der Mieter*innen umzusetzen.

 

Die Opposition und die Medien konnten dir aber nicht verzeihen, dass du als Teenager eine Ausbildung bei der Stasi begonnen hast.

Holm: Das war eine politisch aufgeheizte Situation in einem Rot-Rot-Grünen Regierungsbündnis mit einer im Stadtentwicklungsbereich fortschrittlichen Programmatik. Da hat sich dann viel an biographischen Momenten entzündet. Meine Bereitschaftserklärung, bei der Staatsicherheit anzufangen, meine begonnene Ausbildung dort in der Wendezeit 5 Monate und der spätere Umgang mit meiner Biographie, wurden als Anlass genutzt, um sehr vielschichtige Ziele zu bedienen. Da ging es um die Vergangenheitsbewältigung in Teilen der ostdeutschen Gesellschaft und um eine die Aktivierung eines tieferliegenden Antikommunismus in Teilen der westdeutschen Gesellschaft. Es ging auch um politischen Desavouieren des rot-rot-grünen Regierungsbündnisses und darum, bestimmte wohnungspolitische Positionen auszubremsen. Was das zu einer heftigen Debatte gemacht hat, ist, dass sich diese unterschiedlichen Motive gegenseitig hochgejazzt haben, und die ersten Wochen der neuen Regierungszeit völlig überschatteten.

 

Es ist schwer nachvollziehbar, wie diese fünf Monate als Teenager in der Stasiausbildung deine politische Integrität fast dreißig Jahre später vollständig aufheben sollen.

Holm: Man kann relativ deutlich sehen, dass es nicht um die Vergangenheit ging, sondern um aktuelle politische Auseinandersetzungen, aber auch da mit unterschiedlichen Motiven von den einzelnen Seiten.

 

Was hast du aus der Arbeit im Berliner Senat unabhängig von diesem Skandal, der keiner war, mitgenommen?

Holm: Dass die Wahlmehrheiten, die es im Abgeordnetenhaus gibt, nicht mit dem politischen Kräfteverhältnis in Berlin übereinstimmen. Über die Medien, über bestimmte Lobby-Gruppen, über alle möglichen Leute, die sich zum öffentlichen Sprechen ermuntert fühlen, werden politische Entscheidungen in eine Richtung gedrängt, die nichts mit dem Aufbruch von Rot-Rot-Grün zu tun hat. Unabhängig von der Personaldiskussion nach meiner Berufung zum Staatssekretär erleben wir gerade, wie es der Immobilienlobby – die auch von Teilen der Hauptstadtmedien und der Wissenschaft unterstützt wird – gelingt, die die völlig unzureichende Forderung des „Bauen! Bauen! Bauen!“ als Lösung aller Probleme zu platzieren. Dabei wissen wir aus allen Daten, die wir kennen: Wir brauchen nicht nur mehr Wohnungen, sondern vor allem mehr Wohnungen zu bezahlbaren Preisen. Einfach nur mehr bauen ist nicht mal eine Scheinlösung.

 

Warum entspannen mehr neue Wohnungen nicht den Markt?

Holm: Aus einer puren Marktlogik gibt es kein Bauinteresse, wenn es dazu führt, dass die Preise wirklich sinken würden. Jetzt ist der Wohnungsbau attraktiv, aber wenn die Preise fallen, lässt dieses Interesse auch schnell wieder nach. Bei der angestrebten Entspannung geht es zudem darum, dass wir statt Preisen von 14 Euro 12 Euro haben. Der größte Mangel liegt aber im untersten Preissegment von 5 Euro. Dazu kommt, dass ein Großteil der Investitionen, die in Berlin im Wohnungsbereich getätigt werden, nicht für den Neubau mobilisiert werden, sondern für das Spekulieren mit Bestandshäusern. Da muss der Staat eingreifen.

 

In deinem Buch „Mietenwahnsinn“ berichtest du von einem Haus in Mitte, dessen Wert in 25 Jahren um 1000% gestiegen ist. Was kann die Politik dagegen tun?

Holm: Es gibt eine große Hemmung, an Eigentumsfragen heranzutreten. Das Grundgesetz schützt das private Eigentum als Grundlage unserer Gesellschaft. Die Linke ist da vielleicht besonders vorsichtig, damit ihnen nicht der Sozialismus-Vorwurf des ewig Gestrigen gemacht werden kann. Und es ist ein Milliardengeschäft mit Grundstücken und Wohnungen zu spekulieren. Du bekommst es mit einer artikulationsfähigen Lobby zu tun. Du kannst privaten Marktakteuren aber kaum vorwerfen, dass sie sich wie private Marktakteure benehmen. Das ist tatsächlich wie ein Monopoly-Spiel. Jeder schaut auf seinen Vorteil und möchte die Erträge steigern. Deshalb ist es so wichtig, dass es öffentliche Wohnungsbestände gibt, die nicht dieser Logik unterworfen sind. Das müsste das Ziel jeder linken, progressiven Wohnungspolitik sein.

 

Du bist in der DDR aufgewachsen. Wie hast Du nach dem Mauerfall begriffen, was ein kommerzieller Umgang mit Wohnraum bedeutet?

Holm: Das fiel für mich mit dem ersten elternunabhängigen Wohnen zusammen. Ich war zuerst Hausbesetzer in Mitte und am Prenzlauer Berg. In Ostdeutschland gab das Mietenüberleitungsgesetz MÜG. Mit dem Anschluss der DDR an die BRD stand die gesamte Wohnungswirtschaft vor dem Problem, dass sie so organisiert werden sollte, wie es im Westen üblich war. Aber der Regierung war auch klar, dass die Regeln aus dem Westen nicht einfach auf den Osten gestülpt werden konnten. Das hätte bedeutet, dass sich die Mieten verzehnfachen. Deshalb gab das MÜG. Das war in Ostberlin ein großes politisches Thema. Bei Mieterkämpfen sind meisten nur einzelne betroffen, deshalb ist die Mobilisierung schwierig, aber das MÜG galt flächendeckend. Deshalb gab es damals einen breiten Protest. Wir bleiben alle, das war damals die Losung. Das Symbol mit der kämpfenden Faust aus dem Schornstein oder Dach ist damals entstanden.

 

Wie hat das persönlich auf dich gewirkt?

Holm: Dadurch habe ich Wohnungsfragen als extrem politisch wahrgenommen. Im Zuge dieser Mieterhöhung habe ich mich mit den Fragen beschäftigt: Was ist Miete? Wie kommt die zu Stande? Wie wird die begründet? Die Häuser in Ostberlin wurden alle in wenigen Jahren privatisiert. Die Regeln der Wiedervereinigung sahen vor, dass sie an die Alteigentümer oder deren Erben rückübertragen wurden. Fast jedes Haus hat gleich zweimal einen Eigentümerwechsel erfahren. Weil Alteigentümer in der Regel kein kaputtes Haus in Ostdeutschland verwalten wollten, haben die es an professionelle Immobilienfirmen verkauft. 90% der Liegenschaften wurden innerhalb eines Jahres weiterverkauft. Dies zeigt deutlich, dass es nicht darum ging, ein Unrecht emotional auszugleichen. Der für Ostdeutschland gewählte Weg war der, das öffentliche, staatliche Wohnungswesen der DDR zu privatisieren. In Russland oder Polen ist man da andere Wege gegangen. Der Eigentümerwechsel und die Regulierung von Mieten waren die ersten Naherfahrungen für mich mit dem Kapitalismus. Die neuen Eigentümer und Verwalter kamen fast immer aus dem Westen, die Ost/West-Komponente kam da noch dazu.

 

Wie hast du die Besetzerzeit erlebt?

Holm: In der Wendephase 1990/91 gab es 150 besetzte Häuser in Ostberlin. Die kommunalen Wohnungsverwaltungen wussten, dass die Häuser rückübereignet werden und sie haben sich auch in der DDR-Zeit nicht um die Häuser gekümmert. Die waren in einem erbärmlichen Zustand. In dieses Vakuum sind wir als Besetzer getreten. Die Eigentumsfrage stand aber gar nicht so im Vordergrund. Individuelle Freiheiten auszuleben spielte für viele Ostdeutsche eine große Rolle. In den heruntergewirtschafteten Gebäuden warst du für alles selbst verantwortlich. Das hat für mich einem Ideal von Wohnen entsprochen. Du musstest gucken, dass das Dach dicht ist, dass die Heizung funktioniert. Soll in die Läden eine Kneipe oder ein Club? Oder eine Fahrradwerkstatt? Das habe ich als einen großen Moment von Freiheit empfunden.

 

In „Kommen. Gehen. Bleiben.“ erzählst du von dieser Zeit, dass keiner gefragt, wo man kam, was für einen Hintergrund man hatte. Das ist auch für das Thema des Klassismus interessant. Wenn Du eine Wohnung mietest, du alles offenlegen, implizit deine gesamte Geschichte erzählen: Deinen Familienstatus, deinen Beruf, deinen Job, dein Einkommen, deine Schulden.

Holm: Das war nicht nur der Akt des Besetzens, sondern das Erschaffen einer um sich selbst kreisenden Szene von 3000 oder 4000 Hausbesetzer*innen. Enzensberger hat das als den kurzen Sommer der Anarchie beschrieben. Es gab ein völliges Vakuum von staatlicher Macht und privater Gewinninteressen. Das hat eine Szene hervorgebracht, in der es nur darum ging, was man kann: Wer hat schon mal einen Tresen gezimmert? Wer kann einen Kachelofen reparieren? Wer weiß, wie man Gitter anbringt, dass sie bei Naziangriffen wirklich halten? Du hast Recht, das war ein Gegensatz zum Wohnen unter Marktbedingungen. Es war egal, wo du herkommst oder was du bist. Es ging darum, was du kannst und was du willst. Wenn du heute eine Wohnung mietest geht nur darum, was du an Status oder an Geld mitbringst. Die Wendezeit in Ostberlin wie ich sie erlebt habe, war tatsächlich ein „kurzen Sommer der Anarchie“, ein kurzer Moment der Klassenlosigkeit. Das war für alle, die dabei waren eine prägende Erfahrung. In meinem Leben hat sich das in den 28 Jahren danach nicht nochmal in so einer Intensität wiederholt.

Alexis Waltz ist Kulturwissenschaftler und Journalist. Besonders interessiert er sich für elektronische Musik, aber auch für die Geschichte der Gegenkulturen und Avantgarden, Kultur und Politik der USA, die Geschichte der Arbeit und die Geschichte der Geschlechter. Seine Texte sind in Groove, Spex, taz oder in der Süddeutschen Zeitung zu lesen und wurden ins Englische, Russische, Polnische und Französische übersetzt. 
Andrej Holm ist ein deutscher Sozialwissenschaftler mit den Themenschwerpunkten Stadterneuerung, Gentrifizierung und Wohnungspolitik. Er lebt als Stadtsoziologe und Aktivist in Berlin. Von Dezember 2016 bis Januar 2017 war er Staatssekretär für Wohnen in Berlin. Seit Februar 2017 berät er die Fraktion der Partei Die Linke im Berliner Abgeordnetenhaus in wohnungspolitischen Fragen.

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