Wenn es um die Gegenwart und speziell um das Internet geht, gibt es eine doppelte Falschannahme. Erstens, die Revolution ist schon passiert. Zweitens, was gerade passiert, ist tatsächlich neu. Im Gegenteil kann man sagen: Das Internet hat nichts Neues gebracht. Es hat vielmehr Altes verstärkt, beschleunigt, angeheizt und manchmal ausgemerzt. Aber etwas Neues in die Welt gesetzt hat es sicherlich nicht. Bis jetzt. Denn derzeit beginnt sich ganz fein abzuzeichnen, wie das Internet tatsächlich die Welt verändern könnte – indem es Maschinen ermöglicht, dabei mitzureden, welches Bild wir uns von der Welt machen.
Um das zu verstehen, sei vorweg geklärt: Die Öffentlichkeit ist der abstrakte Ort, an dem Probleme, welche die ganze Bevölkerung betreffen, besprochen werden. Weil nicht alle Menschen immer mit allen Menschen sprechen können, übermitteln Medien die jeweiligen Informationen und speichern sie ab. Das Internet ist nun das Medium, in dem alles zusammenkommt. Es vermittelt zwischen Menschen, ist öffentliches Forum und Privatraum zugleich und liefert besonders effizient Informationen aus. Und, theoretisch, könnte hier jeder mit jeder kommunizieren, weil ja theoretisch jeder mit jeder verbunden ist. Das Internet sei ein Kommunikationsnetz, sagen die Technikfans, in dem jeder und jede Sender und Empfänger sein und gleich laut sprechen könnte.
Und das ist sie auch schon, die ganze Medienrevolution, von der alle sprechen. Dabei hat sich qualitativ nicht viel verändert: Noch immer sprechen Menschen mit Menschen, noch immer geht es um Wissen, das Menschen schöpfen und im gegenseitigen Austausch verfeinern, um es dann zuletzt sedimentartig in Bibliotheken zu Wissensbergen zu schichten. Trotz seiner verflochtenen technischen Struktur ist auch das Internet in den meisten Fällen nicht viel mehr als ein passiver Datenüberträger, ein besserer Draht.
Ganz praktisch ist das Internet immer in der Hand derjenigen, die die Kabel besitzen.
Aber die Öffentlichkeit, mag einer da einwerfen, die Öffentlichkeit hat sich doch massiv gewandelt durch das Internet, allein schon wegen der zahlreicheren Kommunikationsmöglichkeiten. Im Internet wird ständig alles problematisiert, und nicht wie früher nur das, was in die «Tagesschau» passte. Wenn das mal nicht eine gewaltige Leistung des Internets ist!
Erster Einwand: Schön in der Theorie. Aber ganz praktisch ist das Internet immer in der Hand derjenigen, die die Kabel besitzen. Die Machtverhältnisse im Internet sind dank der Snowden-Leaks allzu offenbar geworden. Geheimdienste und Militärs haben die Infrastruktur unterwandert und kontrollieren damit de facto die Kommunikation. Längst ist klar, dass Konzerne wie Facebook und Google eine unheimliche Macht über die Informationsverbreitung haben. Wenn Kontrolle und Macht im Vordergrund stehen, ist die schöne Zeit der freien Internetkommunikation und Selbstermächtigung ganz schnell vorbei.
Zweiter Einwand: Das Internet, wie es derzeit erscheint, hat diese Kommunikation nicht erschaffen, sondern ermöglicht. Es ist das überfällige Ergebnis eines längst vor ihm bestehenden Bedürfnisses nach rascher, globaler, billiger Kommunikation. Es geht letztlich also doch um das Thema Öffentlichkeit.
Aber was ist das überhaupt, Öffentlichkeit? Darauf gibt es keine leichte Antwort. Sie ist eine sehr abstrakte Sache mit sehr praktischen Auswirkungen. Man merkt dem Begriff förmlich an, dass er aus einer anderen Zeit kommt. Also aus einer Zeit, in der es wirklich noch getrennte Sphären gab: hier mein familiärer, intimer Kreis, dort, ganz weit entfernt, die Zentren der Verwaltung und der Wirtschaft. Und irgendwo dazwischen das diffuse Konstrukt Öffentlichkeit. Öffentlichkeit wird üblicherweise (und nach Soziologe Jürgen Habermas) als Arena für die Wahrnehmung, Identifizierung und Behandlung gesamtgesellschaftlicher Probleme beschrieben. Sie funktioniert ideal, wenn alle Beteiligten frei und rational mitreden können – aus diesem Wettkampf der besten Ideen schält sich dann ein Konsens hervor, an dem sich alle messen.
Aber so eine Öffentlichkeit gebe es wegen der Massenmedien gar nicht mehr, so Habermas. Die Öffentlichkeit ist längst von der Logik von Geld, Macht und Verwaltung durchdrungen. Statt eines Wettkampfs der besten Ideen, gibt es einen Handel mit Ideen. Die Kommunikation selbst wird zur Ware, die große Öffentlichkeit zerfällt in Teilöffentlichkeiten. Anstelle einer Demokratisierung entfalten Staat und Wirtschaft dort ihre Macht. Öffentlich sprechen und erhört werden zu können, ist ein Machtmoment.
In Internet könnten wir frei kommunizieren, aber wir machen lieber in strategischer Selbstentfremdung Selfies von uns.
Womit wir wieder beim Internet wären: Die «Kolonisierung der Lebenswelt» durch die Logik von Geld und Verwaltung scheint die Killer-App des Internets zu sein. In ihm könnten wir frei kommunizieren, aber wir machen lieber in strategischer Selbstentfremdung Selfies von uns. Statt miteinander zu reden, reden wir beständig vor einem angenommenen Publikum und wollen nur eines: erhört werden. Alles ist jetzt Publikum. Alles, was man tut, hat einen Wert – zunächst für sich selbst, dann für einen anderen und schließlich, in größter Selbstentfremdung wieder für einen selbst. Indem man sich und das, was man tut, zur Ware macht. Man kommuniziert einfacher, um nicht missverstanden zu werden, und beginnt darüber nachzudenken, wie man Google besser gefallen könnte, damit man weiter oben in den Suchergebnissen auftaucht.
Bilder spielen dabei eine besondere Rolle. An ihnen schärft man sein Bild von sich selbst. Weil man sie, besser noch als Videos, manipulieren kann, sind sie beherrschbarer und vermitteln trotzdem Echtheit. Sie sind schnell und dauerhaft zugleich und überschreiten ständig die Grenze zwischen Privatsphäre und Öffentlichkeit.
Dabei sind wir längst nicht mehr die einzigen, die sich ein Bild von uns selbst und der Welt machen. Plötzlich spricht auch die Infrastruktur mit; was früher nur ein Kabel war, bekommt nun eigene Sensoren, eine eigene Logik und Rechenkraft, um sich selbst ein Bild von der Welt zu machen. Und dank «smarter» Technik kann sich diese Struktur an die transportierten Inhalte anpassen. Sie kann automatisch passende Botschaften zueinander bringen, konfligierende Inhalte auslöschen, vor allem aber: selbst Botschaften schaffen. Nicht nur Menschen und Institutionen kommunizieren nun miteinander, sondern auch die Leitungen und Maschinen, die Relais und Verstärker. Und da die Öffentlichkeit im Internet kein abstrakter Raum ist, sondern eine ganz praktische, physische Gestalt hat, haben diese neuen maschinellen Akteure auch eine besondere Macht.
Jeder kennt den Spruch: Das Medium ist die Botschaft. Damit wollte Marshall McLuhan ausdrücken, dass das Medium einer Nachricht beeinflusst, wie diese Nachricht aufgefasst wird, dass also das Medium selbst relevant ist und erforscht gehört. Was er nicht vorhersehen konnte, ist, dass sein Wortspiel wörtlich Wahrheit geworden ist. Nicht nur «das Internet» als Kommunikationsträger ist interessant, sondern «das Internet als Kommunikator».
Wenn vom Internet der Dinge die Rede ist, dann von Geräten, die mit ihren Sensoren die Welt abtasten und die so gesammelten Informationen ins Netz einspeisen. Diese Informationen dienen zur Absprache der Sensoren untereinander. Aber sie können auch selbst im öffentlichen Raum thematisierte Probleme beeinflussen. Ganz so wie eine automatische Wettervorhersage im Internet ohne menschliches Zutun menschliches Verhalten manipulieren kann.
Wenn man mit einer modernen Digitalkamera ein Bild macht, stellt man sich das immer so vor: Da draußen ist das Motiv und ein Kamerachip wandelt dieses Bild mehr oder weniger 1:1 in ein Raster aus bunten Bildpunkten um. Tatsächlich aber speist der Kamerachip einen Prozessor, der die Sensorendaten untersucht, Gesichter und Mimik erkennt, Aufnahmezeitpunkt und Aufnahmeort erfasst, Licht- und Bewegungsverhältnisse analysiert, auf eigentlich für den 2D-Chip verborgene Tiefenverhältnisse schließt – und aus all diesen Informationen ein Bild berechnet. Das ist aber nur eine, nämlich seine Version des Bildes. Als Mensch drückt man zwar auf den Auslöser, doch der löst nicht die Blende aus, sondern einen komplexen algorithmischen Vorgang. Das Bild, das man am Ende sieht, ist ein Bild, das ein Algorithmus geschossen hat.
Längst ist die Welt voller Kameras, die kein Mensch mehr auslösen muss. Zum Beispiel Überwachungskameras, die Bildsensoren in smarten Alltagsgegenständen, smarten Autos oder der smarten Stadt. Die Welt beginnt sich selbst zu fotografieren. Die Medien des Internets brauchen den Menschen quasi nicht mehr, um sich über den Zustand der Welt zu versichern. Sie erfassen die Welt von selbst und stricken daraus neue Geschichten, die in diese neue Öffentlichkeit eingespeist werden. Weil das ästhetische Verzerrungen mit sich bringt, gibt es bereits diesen Spruch der «Neuen Ästhetik»: Solche sind die Artefakte der algorithmischen Bilderfassung, die sich sanft in die zuvor vor allem menschlich oder ganz physisch-technisch bedingte Ästhetik einfügt.
Wenn die durchmedialisierte Öffentlichkeit ein Abbild der gerade relevanten Zustände der Welt ist, dann haben längst Algorithmen und das von ihnen mittels Big Data erschlossene Wissen Einfluss auf dieses Bild. Und weil die Öffentlichkeit zurück in die Machtzentren und privaten Peripherien der Gesellschaft spielt, können diese neuen «unmenschlichen» Bilder selbst Macht entfalten. Diese «ästhetische Kolonisierung der Lebenswelt» könnte es ohne das Internet und ohne diese neue Form von Öffentlichkeit wahrscheinlich nicht geben.
All dies ist übrigens längst Alltag. Und die Maschinen machen sich schon lang auch ein Bild von uns. Für Facebook ist man ein anderer Mensch als der, den man – kraft seiner tausend Selfies – darstellen will. Facebook reichert diese Informationen durch zahlreiche verborgene Informationen, quasi herausgerechnete soziale Tiefeninformationen, an und vermarktet und verarbeitet dieses und nicht «unser» Bild. Für die algorithmische Facebook-Öffentlichkeit ist man ein anderer Mensch – nämlich nur der, den man ihr gegenüber zeigt.
Wir haben ein Medium, das zwar alle gleichberechtigt, aber die Starken oder Schnellen belohnt.
Wir haben ein Medium, das zwar alle gleichberechtigt, aber die Starken oder Schnellen belohnt. In diesem Medium ringen Firmen, Institutionen und Individuen um ein Publikum. Firmen verhalten sich wie Individuen und Individuen wir Firmen. Die gemeinsame Logik ist Aufmerksamkeit, die in Geld oder Macht verwandelt werden kann. Wenn also die Öffentlichkeit die versammelten Ansichten der Akteure der Welt zu einem Problem und ihr Ringen um Aufmerksamkeit darstellt, dann muss man zu diesen Akteuren von nun an auch Computersysteme zählen.
Vielleicht können sich Computer bereits ein Bild davon machen, wie wir die Welt sehen. Spätestens wenn das erste Algorithmen-Selfie an die Öffentlichkeit kommt, sollten auch wir die Weltsicht der Computer verstehen. Bislang würde es niemand als solches erkennen. Denn wir haben noch nicht verstanden, dass uns die Algorithmen so sehen werden, wie sich selbst: als Sammlung von Wahrscheinlichkeiten und Indizen – also als Datensatz.