«Gehe in die große Stadt, und verkündige ihren Einwohnern» – eine Forschungsnovelle
Im Jahre 2002 beschlossen zwei Forscher im Fach Psychologie, eine Ausnahme von der empirischen Forschung zu machen. Sie wollten Texte entschlüsseln, die ein Unbekannter in der Stadt Zürich mit blauem Filzstift auf Plakate schrieb, dort wo deren Gestaltung dies zuliess. Die Schrift war eine gut lesbare Schulschrift; von den Inhalten stiessen zuerst Bibelzitate aus dem Alten Testament ins Auge. Dazwischen gestreut fanden sich seltsame politische Anspielungen: Lob für Politiker wie Christoph Blocher und internationale Staatsmänner, meist aus dem rechten Lager.
Seine Schreibflächen fand der Unbekannte in der Innenstadt von Zürich, im Gürtel zwischen dem Bahnhof Stadelhofen und dem Hauptbahnhof, am Bellevue und am Paradeplatz sowie entlang der Bahnhofstrasse. Er schrieb auch auf sogenannte Baustellwände, Abschrankungen aus meist gelben Brettern, die dazu dienten, Baustellen vom Publikum abzuschirmen.
Das eigentliche Ziel aber war, die rätselhaften Texte zu verstehen – oder realisischer: ansatzweise zu verstehen. Rechnen schien hier nicht helfen zu können (wobei der eine der Forscher später an Methoden arbeiten sollte, mit denen anhand eines Algorithmus die Ähnlichkeit von Texten gemessen werden konnte…)
Raum
Hätten die Forscher allein mit den Originalen gearbeitet, so hätte das bedeutet, ständig in dieser Zone zu spazieren, von Plakat zu Plakat und von Bau zu Bau. Die Erfindung der Fotografie machte das überflüssig. Eine Kollegin, die mit der Kamera umzugehen wusste, dokumentierte das Gesamtkunstwerk in Totalen und in Ausschnitten. Ein einfaches Programm zur Fotoverwaltung erlaubte es, rasch durch den gesammelten Bilderschatz zu blättern.
In einem nächsten Schritt wurden die Texte abgetippt und in eine Datenbank gebracht. Rasch zeigte sich eine grundlegende Struktur in der Schreibarbeit des Unbekannten: Auf einem Plakat kombinierte er einen Bibelspruch und dessen Quellenangabe mit einem eigenen Satz, der oft politische Anspielungen in witziger oder apellativer Form enthielt. Die Forscher nannten diese Textgruppe einen «Spruch». Hier als Beispiel zwei Sprüche:
«Tröstet, Tröstet Mein Volk! Siegenthaler in Jesaja 40! SVP Der Schweiz zuliebe!»
«ER hat SEINE Wege Mose wissen lassen, Die Kinder ISRAËL SEIN TUN Dr. Blocher im Psalm 103»
Und, aus dem Rahmen fallend in seiner Unmittelbarkeit: «SVP und überall dieses beklemmende Gefühl!»
Die Datenbank umfasste schliesslich etwa 130 solcher Sprüche.
Zeit
Was der Unbekannte tat, verstiess gegen verschiedene Regeln und Gesetze. Er hatte also nicht viel Zeit zum Schreiben, bevor er sich vom Tatort wieder absetzte. Vielleicht war ein Spruch, abgesehen davon, worin die Logik seines inneren Aufbaus lag, einfach das, was er in ein paar Minuten zu Papier bzw. Holz bringen konnte.
Die Sprüche-Datenbank verknüpften die Forscher mit einer zweiten Datenbank, die die zitierten Bibelsprüche enthielt. Von 47 Bibelstellen kamen zwei je 6 bzw. 5 Mal vor. Zwei weitere Stellen zitierte der Unbekannte je 4 Mal, 3 weitere je 3 Mal. Die übrigen Bibelstellen wurden nur 1 oder 2 Mal zitiert. Der Unbekannte war also Bibelleser und, so die Forscher, Zeitungsleser. Er flocht aktuelle Ereignisse, wie den Besuch des damaligen japanischen Premierministers Junichiro Koizumi beim Hiroshima Dom am 6. August 2001, in seine Texte ein.
Die Allgemeine Plakatgesellschaft, die von der Arbeit des Unbekannten einen beträchtlichen und nachhaltigen Schaden davontrug, erklärte den Forschern, dass die Auflage eines gedruckten Plakats meist Reserve mit einschloss. Damit konnten verunzierte oder beschädigte Plakate ein- bis zweimal ersetzt werden. Danach mussten bereitgelegte Plakate mit zeitlosen Sujets einspringen, etwa Werbung für den Zoo Zürich. Das Datum und die Zeitangabe auf einer digitalen Fotografie gab deshalb ungefähr die Zeit an, in der der Unbekannte den Spruch geschrieben hatte.
Ganz anders war das bei den Baustellwänden. Die Forscher erkannten dies, als sie auf dem Kopf stehende Texte des Unbekannten entdeckten. Auch waren manche Texte in de Mitte abgeschnitten. Baustellwände bestehen aus Brettern, die quer in einen eisernen Rahmen gesenkt werden. Baustellwände werden auseinandergenommen und andernorts neu zusammengesetzt, ohne Rücksicht auf Missionen wie die des Unbekannten. Das bedeutete, dass Texte auf Baustellwänden nicht datierbar waren; es sei denn, sie spielten auf ein historisches Ereignis an und man ging davon aus, dass der Unbekannte dieses frisch verarbeitet hatte.
Langjährigen Mitarbeitern der Allgemeinen Plakatgesellschaft fielen schon 1990 – oder noch früher – Texte des Unbekannten auf. Ende 2008 hatte der Unbekannte einem Journalisten gegenüber angegeben, seine Mission sei jetzt erfüllt (Beobachter 26/2008). Aber heute noch, 2015, finden sich seine Texte in Zürich, wenn auch seltener.
Nach der Datenaufnahme 2003/04 dauerte es ca. fünf Jahre, bis der Forschungsbericht erschien. Das Material ruhte jahrelang; die Forscher waren mit anderen Projekten beschäftigt und sagten, wenn sie sich trafen: «Wir sollten endlich mal die Plakattexte…» Offensichtlich wartete niemand ungeduldig auf die Deutung der Botschaften.
Der Wechsel eines Lehrstuhlinhabers machte den Forscher Beine. Sie klemmten sich erneut hinter die Texte und begannen den Forschungsbericht zu schreiben. In einem ersten Teil sollten Material, Kontext und einige Statistiken vorgestellt werden. Dann wollten sie sich an die Deutung der Texte machen.
Resultate
In ihrem Bericht kamen die Forscher zum Schluss, dass für den Unbekannten seine Schreibtätigkeit lebenswichtig war. Er glich damit eine Unstabilität seiner Persönlichkeit aus, indem er sich mit der Stadt identifizierte – mit Zürich, «dem Jerusalem aus der Bibel – und Gott beschwor, seine Hand schützend über diese Stadt zu halten». Auch zeitgenössische Figuren, die er als mächtig empfand (vielleicht weil sie einen Diskurs am rechten Rand des politischen Spektrums führten) übten diese Stützfunktion aus. Er war also nicht der typische «Ad-Buster», der seinem Unmut über die Werbung Ausdruck verlieh.
Die meisten Menschen bleiben kurz stehen, lesen die blaue Botschaft und gehen dann kopfschüttelnd weiter. Doch bleibe wohl etwas hängen, meinen die Forscher, wenn auch eher unbewusst. Im Folgenden ein paar Punke aus ihrem Bericht:
Der Unbekannte kann einem die Bibel nahebringen. Die Zitate aus dem Alten Testament sind kraftvoll, poetisch, aufwühlend – das kann man spüren, ohne Christ sein zu müssen.
Der Unbekannte verbindet mit seinen krakeligen blauen Linien Plakate miteinander und lässt so plötzlich die Ebene der Werbung sichtbar werden, die wir sonst systematisch ausblenden.
Mit seinen Kommentaren linkt er sich da und dort in die Werbebotschaft ein, subvertiert sie, übernimmt sie für seine Zwecke und legt dabei einen Humor an den Tag, über den wir lachen können – er wohl nicht. Besonders liebt er die kindlich gezeichneten Schadensmeldungen einer Versicherungsgesellschaft (viel leerer Platz!). Wo ein Männchen mit einem Koffer wegrennt («Mein Koffer – Nicht ich!») hat er ihm den Namen «Mordechai Vanunu» gegeben und «mein Atom-Koffer» ergänzt, um auf den Diebstahl von Atomgeheimnissen durch den israelischen Agenten anzuspielen.
Mit seiner Neugestaltung der Werbeebene schafft er eine eigene Topologie der Stadt. Es kann einem passieren, dass man die Bahnhofstrasse entlangschlendert und denkt: «Oh, dort unten steht eine Baustellwand. Vielleicht…»
Der Unbekannt verwickelt einen in ein Geheimnis, einen Code. Ohne zu wollen, sieht man sich gezwungen, abzuklären, was hier steht.
Die Forscher sollten sich die Frage stellen, ob seine Botschaft wenigstens bei ihnen angekommen ist…
Detektivisches
Die gesellschaftliche Wirklichkeit holte unsere naiven Forscher ein, als zur Jagd auf den Unbekannten geblasen wurde:
«Info-Box: Kennen Sie den mysteriösen Plakatschreiber? Dann senden Sie uns ein Mail an folgende Adresse: Redaktion Newsnetz» (TA 19.9.2008)
Die Forscher selber hatten nach dem Erscheinen des Forschungsberichts der NZZ ein Interview gegeben, worauf der Tages-Anzeiger sofort mit einem unpräzisen Artikel zum Thema nachdoppelte.
Wenig später hatten die Forscher eine besorgte Vertreterin der Gesundheitsbehörde am Telefon. Sie bat, dem Unbekannten nicht noch mehr mediale Aufmerksamkeit zukommen zu lassen, da ihm das nicht gut tue. Er sei in Behandlung, und der Medienrummel versetze ihn in Aufregung. Die Forscher versprachen Besserung.
Es war aber schon zu spät. «Wissenschaftler suchen eine mysteriöse Person, die seit 15 Jahren anonym Zürcher Plakatwände mit Bibelsprüchen versieht. Der Beobachter hat den Ex-Banker getroffen. Was will er uns sagen?» (Beobachter, 26/2008). Der Gesuchte wurde mit vollem Namen und Foto vorgestellt. Immerhin enthielt der Artikel interessante Details, etwa über die freikirchliche Vergangenheit des Nicht-mehr-Unbekannten und seine Mission in eigenen Worten.
Die Forscher hatten beschlossen, keine Hinweise auf die Identität des Unbekannten zu geben. Die Frau des einen hatte eine verschwommene Aufnahme von ihm gemacht, die ihn von hinten bei der Arbeit zeigte. Diese wurde aber in die Publikation nicht integriert. Der betreffende Forscher hatte sich einmal kurz mit dem Unbekannten unterhalten, und zwar darüber, welcher Filzstift besser auf gemalten Flächen hafte. Zuvor hatte derselbe Forscher die Idee gehegt, aus den höchst- und den tiefstplatzierten Schreibzeilen die Körpergrösse des Unbekannten zu ermitteln.
Sehet diesen Menschen. Der Code, um die «Wahrheit» in den Worten dieses bekannten Unbekannten endgültig zu entschlüsseln, muss wohl erst erfunden werden.