Eine Kluft sei ein tiefer Riss, steht im Duden. Solche Risse durchziehen unsere Gesellschaft von allen Seiten. Aber nicht von überall her sind sie gleich gut zu sehen. Diese Eigenschaft erfasst das Wort Kluft sehr gut – während man im Englisch von einer «divide» spricht, einer Trennung. Das beschreibt zwar die Wirkung der Klüfte auf die Gesellschaft, nicht aber deren Unscheinbarkeit. Die beiden Klüfte, um die es im Folgenden geht, decken diese wiederum sehr deutlich auf: Die schulische Kluft bezeichnet die Tatsache, dass die Biografien der Eltern einen entscheidenden Einfluss auf die Abschlüsse ihrer Kinder haben. Entgegen dem verbreiteten Eindruck, das Schweizer Schulsystem sei gerecht und offen für alle Teile der Bevölkerung, lässt sich die Kluft statistisch nachweisen: Üben die Eltern einen Beruf mit tiefen Anforderungen und niedrigem Lohn aus, besucht jedes fünfte Kind eine Hochschule. Bei Kindern von Akademikerinnen und Akademikern ist dieser Wert vier-mal so hoch. Rund ein Viertel der Jugendlichen mit Migrationshintergrund bricht die Ausbildung auf der Sekundarstufe II ab, tritt also vorzeitig aus einer Mittelschule oder einer Lehre aus. Dieser Wert liegt bei Schweizer Jugendlichen fünfmal tiefer. Welche Schulbildung ein Kind geniesst, hängt also wenig mit seinem schulischen Leistungsvermögen zusammen. Viel stärker ist der Einfluss der Erwartungen, die Lehrpersonen, Eltern und die Kinder selbst aufgrund der Lebensumstände entwickeln. Urs Moser, ein Zürcher Bildungsforscher, konstatierte vor zehn Jahren: «Der Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Schulleistung ist in kaum einem anderen Land so eng wie in der Schweiz.» Und die jüngere Entwicklung ändert daran nichts: Die Kluft öffnet sich weiter.
Erstaunlich: Eröffnet die Digitalisierung nicht Zugänge zu Informationen und informellen Lernumgebungen, welche Kinder unabhängig vom Bildungsgrad der Eltern ermächtigen könnten, einen anspruchsvollen schulischen Weg zu gehen?
Hier versteckt sich die zweite Kluft: Die digitale. Der Begriff wurde ursprünglich dafür verwendet, unterschiedliche technische oder wirtschaftliche Zugangsmöglichkeiten zum Internet zu beschreiben. Die technische Kluft ist etwa in Deutschland immer noch ein massives Problem: Viele Gegenden sind nicht mit einem Breitbandanschluss ausgestattet, so dass es für die Menschen, die dort leben, gar nicht möglich ist, eine schnelle Internetverbindung nutzen zu können. In anderen Ländern kostet der Netzzugriff so viel, dass nur Privilegierte es sich leisten können, digitale Anwendungen zu nutzen. Diese beiden Probleme sind in der Schweiz nur minimal vorhanden: Die Infrastruktur ist im internationalen Vergleich recht gut und der Zugang erschwinglich. Die Kluft eröffnet sich hier hinsichtlich eines dritten Aspekts: Unterschiede zeigen sich beim Umgang mit digitalen Informationen, bei der «digital literacy», wie das auf Englisch heisst. Der deutsche Begriff der «Medienkompetenz» erfasst dabei nur schwer, was es bedeutet, Inhalte aus dem Netz in Wissen umzuwandeln und dabei nicht den vielen digitalen Verführungen, die um unsere Aufmerksamkeit werben, zu verfallen. Entscheidend dafür sind zwei Faktoren: Die Unterstützung in der Familie sowie das Netzwerk, in dem man sich bewegt. Hier zeigt sich: Kinder, die in Bezug auf Schulerfolg gute Voraussetzungen geniessen, sind auch im Hinblick auf den Erwerb von «digital literacy» im Vorteil. Und umgekehrt leiden Kinder mit unterdurchschnittlicher Unterstützung doppelt: Sie müssen sich stärker anstrengen, um in der Schule bestehen zu können, und erfahren gleichzeitig digitale Medien eher als Stress und Ablenkung,
denn als Hilfsmittel.
Chancengerechtigkeit ist so heute im besten Fall ein leeres Versprechen – im schlechteren Fall eine blanke Lüge, mit der systematische Diskriminierung überdeckt werden soll. Exemplarisch zeigte das kürzlich der Fall einer 16-Jährigen im Kanton Obwalden: Weil ihre Eltern Unterstützung von der Sozialhilfe erhalten, beschloss das Sozialamt ihrer Wohngemeinde, sie müsse eine Berufslehre absolvieren, und verbot ihr den Besuch einer Mittelschule. Corinne Hutmacher-Perret, eine Vertreterin der Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe, kommentierte den Entscheid wie folgt: «Es liegt im Ermessen der Gemeinde, zu entscheiden, ob die Sozialhilfe eine höhere Schulausbildung einer jungen Sozialhilfebezügerin finanzieren soll oder nicht.» Betrachtet man Bildung aus einer finanziellen Perspektive, zeigt sich die herrschende Diskriminierung und Elitebildung noch einmal deutlicher: In einigen Kantonen müssen Studierende etwa einen Teil der bezogenen Stipendien zurückzahlen. Überhaupt gibt es gravierende Unterschiede in Bezug auf die Anzahl der Bezugsberechtigten für Stipendien und in Bezug auf die Höhe der ausbezahlten Beträge – eine Willkür, die zu den schwankenden Maturaquoten hinzukommt. Je nach Wohnkanton ist es einfacher oder schwieriger, eine gymnasiale Matur zu erlangen: Sowohl schulisch wie auch ökonomisch.
Aber der Fall der jungen Frau aus dem Kanton Obwalden zeigt nicht nur, dass auch wirtschaftliche Unterschiede zur Bildungskluft beitragen: Mit Eltern, die aus Eritrea in die Schweiz eingewandert sind, gehört die Schülerin dazu einer Gruppe an, die an Schulen tendenziell diskriminiert wird. Verschiedene Studien zeigen, dass Lehrinnen und Lehrer Lernende mit Migrationshintergrund schlechter bewerten und ihnen Lernerfolge weniger stark zutrauen.
Das Schweizer Schulsystem ist so gestaltet, dass Kinder von Eltern einer gut gebildeten, überdurchschnittlich reichen Elite ohne Migrationserfahrungen leichter zum Schulerfolg kommen. Diese Elite stellt so durch ihren politischen Einfluss sicher, dass die soziale Durchmischung gering bleibt. Indem die für das System Verantwortlichen sich auf das Argument abstützen, das System sei politisch so gewollt, blenden sie die systemische Ungerechtigkeit aus. Die Herkunft entscheidet dreifach über den Schulerfolg von Kindern: als geografische, sozioökonomische und bildungsbiografische Diskriminierung. Das ist kein Scheinproblem: Weiterhin korrelieren nämlich Berufe mit hohen Einkommen mit dem Bildungsgrad: Wer die schulischen Abschlüsse schafft, verdient in der Regel auch mehr als andere.
Doch die Digitalisierung bringt massive Veränderungen mit sich: Die sogenannte Disruption betrifft sowohl die Berufswelt wie auch die Schule. Ob eine Matur oder ein Studienabschluss in zehn Jahren noch dieselbe Bedeutung hat wie heute, ist ungewiss: Unternehmen setzen bei Einstellungen zunehmend auf Verfahren, die vom Schulsystem unabhängig sind. Gleichzeitig erwarten sie von vielen Angestellten, in teilweise prekären Arbeitsverhältnissen Höchstleistungen zu bringen und sich dabei permanent weiterzubilden.
Was euphemistisch oft «lebenslanges Lernen» genannt wird, ist meist eine zusätzliche Anforderung an Berufstätige, die mit den Mess- und Überwachungsmethoden digitaler Werkzeuge leicht einzuführen ist. Sollten hier gesellschaftliche Ungerechtigkeiten nicht intensiviert werden, weil sie die digitale und die schulische Kluft gegenseitig verstärken, müsste das Schulsystem für gleiche Möglichkeiten für alle sorgen. Eine politische Vision dafür liegt auf dem Tisch: Der Lehrer und Bildungsjournalist Andreas Pfister fordert eine «Matura für alle»: Jeweils ein Drittel eines Jahrgangs sollte eine gymnasiale Matur, eine Fachmatur beziehungsweise eine Berufsmatur ablegen. Ein solches System würde echte Chancengleichheit sicherstellen, weil mit einer Matur alle Jugendlichen befähigt würden, lebenslanges Lernen im Beruf und ausserhalb voranzutreiben und auch weiterführende Ausbildungen zu absolvieren.
Auf dem Weg zu dieser Vision müssen Benachteiligungen im digitalen wie auch im schulischen Raum nicht schöngeredet, sondern dargestellt und entfernt werden. Einige Massnahmen sind bereits leicht umsetzbar: Lehrpersonen mit Migrationshintergrund sind weniger anfällig darauf, Schülerinnen und Schüler mit einem solchen zu benachteiligen. Und ein kreativer, herausfordernder Umgang mit digitalen Medien kann Kinder dabei unterstützen, mündig mit den Angeboten der globalen Unterhaltungsindustrie umzugehen. Quoten bei Aufnahmeprüfungen und Selektionsverfahren legen Verzerrungen im aktuellen System offen und korrigieren sie gleichzeitig.
Benachteiligen und Privilegien wirken im heutigen System für viele Beteiligte unbewusst. Werden sie sichtbar gemacht und transparent kommuniziert, wie das bei Quoten zwingend der Fall wäre, dann könnten sich Verantwortliche nicht einreden, schlicht die schulische Leistungsfähigkeit zu berücksichtigen, wenn sie in Wirklichkeit auch Faktoren in die Beurteilung mit einfliessen lassen, die für Lernprozesse unerheblich sind.
Gesellschaftliche Klüfte, wie sie durch die Digitalisierung und das Schulsystem aufgerissen werden, sind dort am hartnäckigsten, wo die Ideologie wirkt, es gäbe gar keine. Sich bewusst zu machen, dass es oft nicht die Leistung ist, die über Erfolg entscheidet, und nicht der Zugriff auf ein Smartphone, der Teilhabe an digitalen Prozessen ermöglicht – das ist ein erster Schritt. Er erlaubt, Massnahmen zu definieren, welche die Klüfte verkleinern können.