Spaziert man vom Sanatorium Walenstadtberg eine gute Stunde steil die Bergstrasse hinauf und begibt sich in die Nähe der steil abfallenden Wände des Churfirsten-Massivs, trifft man auf ein sonderbares Gebäude aus grauem Granit. Es thront auf 1300m Höhe über dem Walensee inmitten von Alpweiden und Tannenwäldchen: Ein eigentlicher Tempel, der mit seiner massiven Säulenhalle und zwei diese rahmenden mit Mosaiken verzierten Seitenwänden irgendwie nicht an den Ort passen mag – hierher, wo man Bergbauernhäuser oder Maiensässe vermuten würde. Das monumentale Gebäude ist so ausgerichtet, dass der Blick sich in Richtung der Flumserberge nach Süden erstreckt und beim Besucher ein Gefühl der Erhabenheit hervorruft. Im Wasserbecken im halboffenen Innenhof spiegeln sich der Himmel und die Alpenwelt, weit unten im Tal ist der langgezogene Walensee zu sehen.
Vorstellungen von griechischer Mythologie oder nordischen Sagen klingen an: Doch dies hier ist nicht der Olymp, es ist die Alp Schrina-Hochrugg. Es ist auch nicht die Akropolis, und Walenstadt ist nicht Athen. Der Tempel ist weder von Göttern bewohnt noch ihnen geweiht. Seine Botschaft und Bedeutung gelten dem Menschen und seinem irdischen Dasein – PAX, Friede auf Lateinisch, steht in grossen, in Stein gehauenen Buchstaben im Tympanon über der Säulenhalle. Und wenn – um im bildungsbürgerlichen Jargon zu bleiben – die Massigkeit des Baus an das mythologische Geschlecht der Titanen als Erbauer denken lassen mag, so irrt man auch da: Ein Einzelner, Sterblicher, hat diesen weltlichen Tempel erschaffen: Karl Bickel (1886–1982), Grafiker, Maler, Zeichner und Bildhauer, ursprünglich aus Zürich stammend.
Über Jahrzehnte hat der Mann einen grossen Teil seiner Schaffenskraft aufgewendet, um sein eigenes, individual-mythologisches Monument zu schaffen – ein Lebenswerk, das seinesgleichen sucht im Ausmass an Beharrlichkeit und Obsessivität bei der Verwirklichung seiner in Stein gehauenen Utopie. Gewidmet hat sein Schöpfer das Werk, das in wesentlichen Teilen zwischen den beiden, von völkischem Wahn geprägten Weltkriegen entstanden ist, dem «umfassenden schaffenden und guten Menschen» – so steht es an einer der Säulen zu lesen. Die figurativen Mosaike vermitteln in klassizistischer Symbolsprache den Appell an die Friedfertigkeit und Kreativität eines humanistisch verbrämten Menschen. Paradox dabei erscheint höchstens, dass Bickels Tempel typologisch in seiner aufgeladenen, schwerfälligen Architektur formal nicht weit ist von Stilelementen, die sich auch in Albert Speers zeitgleichen Entwürfen der 1930er Jahre für Germania finden liessen. Doch dies tut dem Ansinnen des Künstlers, welcher Antike und Renaissance bewunderte, keinen Abbruch. Karl Bickel war formal im Neoklassizismus des 19. Jahrhunderts verwurzelt, sein Schaffen geleitet von dualistischen und kosmischen Vorstellungen. Das pseudosakrale Bildprogramm des Paxmals will in seinen Mosaiken die Wege des körperlichen und des geistigen Menschen aufzeigen. Die Bildwerke der Westmauer stellen in den Worten ihres Autors in einem Zyklus das körperliche Leben dar: «Mann – Weib – Begegnung – das Paar – die Zeugung – die Erwartenden – das Kind». In der offenen Tempelhalle kulminiert diese Wand im Bild der Familie als der «kleinen Gesellschaft». Die Ostmauer symbolisiert mit «die Erwachenden – die Ringenden – die Erwartenden – der Empfangende – die Schauenden – die Aufgehenden» das geistige Leben. Dieses findet den Abschluss in der rechten Halle mit der Darstellung der «Grossen Gemeinschaft», welche sich in der «Arbeitsgemeinschaft» der Menschen manifestiert. Das Bild des Alters, welches für die Lebenserfüllung steht, beherrscht die Rückwand in der Hallenmitte. Zwischen den Säulen finden sich Tier- und Pflanzendarstellungen.
Karl Bickel wuchs in Zürich als Kind einer ehemaligen Bauernfamilie auf. Seine Karriere schien zunächst ganz urban zu verlaufen. Der junge Bickel absolvierte eine Lithografenlehre im ‹Artistischen Atelier von Paul Bleuler›, das vor allem Postkarten entwarf. Danach arbeitete er als angestellter Werbegrafiker, um sich aber bald schon selbständig zu machen. Bickel schuf dabei unter anderem Modekataloge für Grieder. Etwas später trug er dann mit seinen in Zusammenarbeit mit der traditionsreichen grafischen Anstalt J.E. Wolfensberger im Weltformat gestalteten Plakaten zum internationalen Ruf der Schweizer Grafik bei. Seine Affinität zur Kunst liess Bickel schon früh Abendkurse an der Kunstgewerbeschule Zürich belegen und veranlasste ihn 1912 nach Italien zu reisen. In Florenz waren es vor allem die monumentalen Skulpturen Michelangelos, die ihn nachhaltig beeindruckten und zu ersten eigenen bildhauerischen Versuchen in Marmor inspirierten. Unterbrochen wurde Karl Bickels Karriere im Jahr darauf von einer schweren Tuberkulose-Erkrankung. Die Genesung im Lungensanatorium Walenstadtberg und der Ausbruch des Ersten Weltkriegs bewirkten in ihm einen Sinneswandel. Vom erfolgreichen Zürcher Gestalter und Künstler entwickelte er sich zum eskapistischen Bergbewohner, welcher sich in der Nähe der Stätte seiner Heilung niederliess und sich selber gelobte, sein Lebenswerk einem Monument des Friedens zu widmen. Sein Elternhaus in Zürich, welches dank ihm auch den Ruf als lebhafter Literaten-, Tänzer- und Künstlertreffpunkt genossen hatte, verkaufte er 1924, um definitiv nach Walenstadtberg zu ziehen. Hier lebte er fortan mit seiner Frau, der St. Gallerin Bertha Albrecht und seinem gleichnamigen Sohn, Karl Bickel junior. Letzterer trat später in die Fussstapfen des Vaters und wurde ebenfalls Künstler. Die Arbeiten am Paxmal erhoffte Bickel zunächst durch Fremdfinanzierung zu realisieren. Als dies nicht gelingen wollte, auferlegte er sich ein strenges Arbeitsregime, das in ein Sommer- und ein Winterhalbjahr unterteilt war. In der wärmeren Jahreszeit widmete er sich dem Bau des Paxmals, während er im Winter jeweils für die damaligen Postbetriebe, die PTT, Briefmarken entwarf und stach und damit sein Lebenswerk selber finanzierte. Die Arbeit als Werbegrafiker gab er 1934 endgültig auf. Seinen Arbeitsrhythmus hielt er über Jahrzehnte hinweg konsequent aufrecht – bis 1969 entstanden zahlreiche Briefmarkenserien für die Schweiz, Liechtenstein, Portugal und Luxemburg. Die kleinteilige und präzise Arbeit an den Stahldruck-Vorlagen für die Briefmarken unter der Binokularlupe steht in bemerkenswertem Kontrast zu den körperlich anstrengenden Steinmetz- und Mosaikarbeiten der Sommermonate. In den Jahren als die Säulenhalle schon errichtet war, diente das Paxmal zwischenzeitlich als Wohnstätte der Bickels. Während im dreieckförmigen Tympanon oben sich eine einfache Wohnung befand, diente ihm die damals verglaste Säulenhalle unten als Atelier. Es gibt Fotos von Karl Bickel und seiner Frau, auf denen sie auf Liegestühlen zwischen der damals noch verglasten Säulenhalle und dem zentral angebrachten Wasserbecken des Monuments sitzend die Sommersonne geniessen – das Paxmal gleichsam in seiner Zwischennuztung als Alpen-Villa mit Infinitypool. Später, als die Familie dann in der Nachbarschaft des Paxmals ein eigens erbautes Haus beziehen konnte, wurden die Fenster zugemauert. Ihre Umrisse sind aber bis heute seitlich des Schriftzugs PAX deutlich zu erkennen.
1949 war das Opus magnum schliesslich vollendet. Im Alter von 80 Jahren entschied Karl Bickel, es seiner ehemaligen
Arbeitgeberin, der PTT zu schenken und dadurch dessen Erhalt zu sichern. Schliesslich kam es dann, wiederum durch Schenkung, an die in Walendstadt ansässige Bickel-Stiftung, welche seit 2002 auch ein Museum betreibt, das Bickel senior und junior gewidmet ist, das aber auch Werke anderer, meist regionaler Schweizer Kunstschaffender zeigt.