Es war einmal das Internet: Ein grenzenloser Raum, in dem freie Individuen gleichberechtigt und auf Augenhöhe konstruktiv miteinander umgehen konnten. Die perfekten Voraussetzungen für eine Demokratie! In der Frühzeit des Internet blühte deshalb auch demokratiepolitisch der Cyber-Optimismus. Ob das Internet jemals wirklich dieser urdemokratische Raum war, ist zweifelhaft. «Es war einmal», so fangen Märchen an. Die Utopie der freien und gleichen, miteinander vielfältig vernetzten Menschen in der digitalen Welt, gab es aber tatsächlich. Niemand hat sie so schön und pathetisch beschrieben wie John Perry Barlow, der Cyberpionier und Vordenker des Internet. In seiner Unabhängigkeitserklärung des Cyberspace von 1996 heisst es an einer Stelle: «We will create a civilization of the Mind in Cyberspace.»
Diese Utopie hat sich nicht verwirklicht. Das Internet ist nicht der Ort der Demokratie geworden. Ganz im Gegenteil. Es wird – in weiten Teilen – von ungezügelter Macht beherrscht. Echte Diskussionen finden immer weniger statt. Stattdessen finden sich hate-speech und shitstorms. Eine demokratische Diskussionskultur? Fehlanzeige.
Code is Law: Macht statt Recht
In seiner Anfangszeit war das Internet vor allem ein technisches, weniger ein politisches oder soziales Phänomen. Es wurde von Ingenieuren und Informatikern entwickelt. Bis heute prägt dieses technische Denken das Internet. Die grundlegenden Institutionen und Standards werden von technischen Gremien geschaffen. Demokratische politische Kontrolle findet (fast) nicht statt. Das wäre – vielleicht – kein Problem, wenn das Internet immer noch ein rein technologisches Phänomen wäre. Das Internet ist aber schon lange nicht mehr nur ein gadget für Nerds. Es ist inzwischen ein immer wichtigerer Teil des real life, der Lebenswelt geworden. Heute «gehen» wir nicht mehr ins Internet. Heute bewegen wir uns wie selbstverständlich ohne Grenzen in der gesamten Welt – in der analogen und der digitalen. Deshalb ist es fatal, dass die wichtigsten Regeln im Internet immer noch von Informatikern, Ingenieuren und kapitalkräftigen Internetkonzernen gemacht werden. In der Demokratie ist es üblich, dass Macht durch demokratisch legitimiertes Recht gebändigt wird. Das ist im Internet noch völlig anders.
Was wir in der digitalisierten Welt überhaupt tun können, wird von Algorithmen gesteuert. Wie die digitale Welt aussieht, entscheiden diejenigen, die diese Algorithmen schreiben. Und sie schreiben das in die Algorithmen, was ihren ganz eigenen politischen oder ökonomischen Interessen und Wertvorstellungen entspricht. Das ist doppelt fatal. Die Regeln von Facebook, Twitter, Google oder Amazon basieren – natürlich – auf anderen Wertvorstellungen als die demokratischen Verfassungen. Und sie sind – anders als staatliche Gesetze in der Demokratie – nicht demokratisch legitimiert. Bürger haben potentiell Einfluss auf Gesetze. Aber kein User hat auch nur ansatzweise eine Möglichkeit, den Inhalt einer Policy von Facebook oder Twitter zu beeinflussen. So betrachtet ist das Internet zutiefst undemokratisch.
Warum haben die Internetkonzerne so viel Macht? Und warum kommt das demokratisch legitimierte Recht im Internet immer wieder so schmerzhaft an seine Grenzen? Im Internet gibt es (noch) keine Waffengleichheit zwischen Recht und Digitalwirtschaft. Der Grund ist eine grundsätzliche Asymmetrie: Das Internet ist global. Nationale Staatsgrenzen spielen – von Ausnahmen abgesehen – keine Rolle mehr. Das Recht funktioniert genau andersherum: Es ist grundsätzlich – Ausnahmen wie das Europarecht bestätigen die Regel – national geprägt. Normalerweise endet die Wirksamkeit von Recht an der Staatsgrenze. Die bittere Wahrheit ist: Bisher kann das Recht kaum Regeln im Internet durchsetzen.
Um es etwas polemisch auf den Punkt zu bringen: Die demokratischen Gesetze gelten nicht im Silicon Valley. Die nicht demokratisch legitimierten Algorithmen, die im Silicon Valley geschrieben werden, gelten aber zunehmend in der ganzen Welt. Hier liegt ein Grundproblem vor, das die Demokratie insgesamt bedroht. Wie beunruhigend das inzwischen ist, lässt sich an zwei Beispielen zeigen.
Privacy
Die meisten demokratischen Verfassungen kennen ein Recht auf Privatheit und Datenschutz. Das ist kein Zufall. Privatheit hängt eng mit der Menschenwürde zusammen. Zur Menschenwürde gehört ein Bereich, in dem Menschen vollkommen unbeobachtet und vollkommen frei sein können. Wenn sie diese Privatheit nicht haben, entwickeln sie psychische Störungen. Psychologische Studien zeigen das immer wieder. Privacy hat nicht nur einen individuellen Aspekt. Privacy hat auch enorme soziale und politische Bedeutung. Demokratisch mündige Bürger brauchen einen Rückzugsraum, indem sie unbeobachtet nachdenken, Ideen und Weltanschauungen entwickeln und ausprobieren und Kräfte sammeln können. Diktaturen haben das schon früh verstanden. Sie zielen immer darauf, die Privatheit der Bürger zu minimieren. Je weniger Privatheit die Bürger haben, desto besser lassen Sie sich beherrschen. Das gilt natürlich auch umgekehrt: Ohne Privacy gibt es nur Untertanen, keine mündigen Bürgerinnen und Bürger. Eine geschützte Privatsphäre ist eine unabdingbare Voraussetzung für eine lebendige Demokratie. Diese Wertvorstellungen werden von den Machern des Internet nicht geteilt.
«The age of privacy is over» hat der Facebook-Gründer Mark Zuckerberg schon 2010 gesagt. Und das hiess: Findet euch damit ab, dass es keine Privatsphäre mehr gibt. Ähnlich klang Eric Schmidt, der langjährige CEO und Verwaltungsratsvorsitzende von Google. Er meinte 2009 in einem Fernsehinterview ernsthaft: Wenn es etwas gebe, von dem man nicht wolle, dass andere es erfahren, solle man es einfach nicht tun. Das sind keine zufälligen, vielleicht ungeschickten Äusserungen in Interviews. Diese Aussagen sind die Grundlage für viele Geschäftsmodelle in der datengetriebenen Internetwirtschaft. So plump und direkt äussern sich die Protagonisten des Silicon Valley heute nicht mehr. An ihrer Geschäftspolitik ändert das aber nichts. Die technologischen Möglichkeiten von Big Data beruhen gerade darauf, dass möglichst alle Informationen und Daten gesammelt und vernetzt werden.
Seit Mai 2018 gilt in der Europäischen Union die Datenschutzgrundverordnung (DSGVO). Auf den ersten Blick scheint es ein – typisch europäisches – Bürokratiemonster zu sein. Aber das täuscht: Diese europäische Verordnung ist der ambitionierte Versuch, auch in der digitalen Welt die Privatsphäre zu schützen. Ganz ohne Kampf gibt Europa die Privatsphäre seiner Bürger nicht auf. Wer ihn gewinnen wird, ist durchaus noch offen.
Hate Speech und Shitstorm
Der Diskurs steht im Zentrum der Demokratie. Die Grundidee von Demokratie ist: Problemlösungen werden durch den Austausch von Argumenten, Meinungen oder Visionen erarbeitet. Das kann nur funktionieren, wenn der öffentliche Diskurs von einem Minimum an Vernunft und Sachlichkeit geprägt ist. Dazu sind Bürger nötig, die ein Minimum an Vernunft und Engagement für das Gemeinwesen aufbringen. Fördern Internet und Social Media die Fähigkeiten, die für einen demokratischen Diskurs notwendig sind? Das ist sehr zweifelhaft.
Blogs, Posts und andere Einträge in sozialen Medien müssen oder wollen gelesen werden. Aber wie erreicht man die Aufmerksamkeit der User in der Aufmerksamkeitsökonomie? Die Konkurrenz ist gross. Entscheidend ist letztlich der Unterhaltungswert. Aufmerksamkeit bekommen Konflikte, Verstösse gegen rechtliche oder moralische Normen und Skandale. Für Tweets und Posts heisst das: Sie werden emotional, extrem, simplifizierend, polarisierend und sensationsfixiert. Nicht selten verbreiten sie hysterische Gerüchte ohne rationale Basis oder krude Verschwörungstheorien. Dann haben sie eine Chance im Wettkampf um die Aufmerksamkeit der User. Um es zuzuspitzen: Der ideale Blog, Post und Tweet ist kurz, dramatisch und blutig. Das ist nicht nur ein Problem des guten Geschmacks. Das hat weitreichende kulturelle und politische Effekte. Hysterische Meinungsäusserungen rufen hysterische Reaktionen hervor. Diese Art der Kommunikation kann sich deshalb sehr schnell wechselseitig aufschaukeln. So entstehen im digitalen Raum oft explosive Pogromstimmungen, die sich auch in der analogen Welt entladen können. Dann wird es richtig gefährlich.
Typisch für die Kommunikation in der digitalen Öffentlichkeit ist Anonymität. Debattenbeiträge und Kommentare werden oft unter Decknamen oder Pseudonymen geliefert. Das kann man positiv sehen. Demokratie lebt von angstfreien, offenen, ehrlichen Diskussionsbeiträgen. Dazu kann Anonymität beitragen. Sie schützt davor, für Meinungsäusserungen sanktioniert zu werden. Anonymität ist deshalb wichtig – natürlich in Diktaturen, aber auch in freien Gesellschaften. In jeder Gesellschaft gibt es – psychologische, ökonomische, soziale – Zwänge, die freie Meinungsäusserungen behindern (können).
Anonymität ist jedoch janusköpfig, sie hat eine Schattenseite. Gerade weil man für seine Meinungsäusserungen und Beiträge im Schutz der Anonymität keine Verantwortung übernehmen muss, sinken die psychologischen und sozialen Hemmschwellen. Die Psychologie spricht in diesem Zusammenhang vom «Online Disinhibition Effect». Die Folge lässt sich jeden Tag beobachten: Das Verhalten im Netz ist oft aggressiv; Kommentare sind unreflektiert, mit Ressentiments aufgeladen, feindselig, herabsetzend und hasserfüllt. Hate speech ist schon lange keine Ausnahme mehr.
Gefahr: Spill over in die analoge Welt
Immer mehr Menschen verbringen immer mehr Zeit im Internet. Das bedeutet auch: Menschliches Verhalten wird immer stärker von den Regeln, Gewohnheiten und Standards geprägt, die im Internet gelten. Immer mehr Menschen machen ihre wichtigen Erfahrungen in der digitalen Welt. Das bleibt nicht ohne Auswirkungen auf die analoge. Erwartungen und Verhaltensweisen, die im digitalen Raum entwickelt wurden, werden zunehmend auf die analoge Welt übertragen. Auf die Dauer wird das Gesellschaften und Kulturen verändern – zum Positiven hin und zum Negativen. In dieser Entwicklung lauern auch Gefahren für die Demokratie. Demokratie funktioniert nur, wenn mit einem Minimum an Vernunft, Respekt und Sachlichkeit um Kompromisslösungen gerungen wird. Die Debatten in den Social Media lassen nichts Gutes für die Zukunft ahnen. Im Teufelskreis der politischen Hysterie sind Kompromisse in diesen Debatten keine Option. Wenn das in die analoge Welt überschwappt, hat die Demokratie ein tief greifendes Problem.
Neuerfindung der Demokratie
Niemand kann die Zeit zurückdrehen. Die Digitalisierung ist unaufhaltsam. Ihr Tempo nimmt eher noch zu. Was bedeutet das für die Demokratie? Ist die Demokratie damit – jedenfalls auf mittlere Sicht – am Ende? Die Gefahr besteht. Aber es ist kein Naturgesetz, dass die Digitalisierung die Demokratie beschädigen wird. Wir müssen – und können – die Demokratie im digitalen Zeitalter neu erfinden. Das wird sicher ein längerer Entwicklungs- und Anpassungsprozess, der viel Anstrengung erfordert. Aber wenn wir uns der Herausforderung bewusst werden, ist der erste Schritt gemacht. Die Demokratie 2.0 lässt sich erfinden. Wir müssen nur anfangen.