Im Jahr 2012 wurden in der Schweiz die Handystandortdaten in 75 Fällen für eine Rasterfahndung verwendet. Dabei wird nicht abgefragt, wo sich eine bestimmte Person befunden hat, sondern umgekehrt, welche MobilfunkteilnehmerInnen zu einem spezifizierten Zeitpunkt über eine definierte Antenne (oder Gebiet) ihr Handy benutzt haben. Dadurch sind unter Umständen hunderte oder tausende Personen angehalten, ihre Unschuld zu belegen.
In einem bekannt gewordenen Fall ging es um Überfälle auf Bijouterien. Für die Täterermittlung sollten die Mobilfunkanbieterinnen sämtliche TeilnehmerInnen, die während gesamthaft 15.5 Stunden in den betroffenen Gebieten oder Funkzellen Gespräche geführt oder SMS gesendet hatten, zur Auswertung der Staatsanwaltschaft melden. Nun plant der Bundesrat, dass diese sogenannten Randdaten aus Email, Chat, Telefon, SMSKommunikation und sogar aus der Briefpost, statt wie gehabt für sechs neu für zwölf Monate aufgezeichnet bleiben werden müssen.
Kurzbericht von Hartwig Thomas zum
Frühjahrstreffen der Digitalen Gesellschaft
Die Digitale Gesellschaft (DG) Schweiz hat vor einem Jahr beschlossen, eine Kampagne gegen die Vorratsdatenspeicherung zu lancieren. Die Digitale Gesellschaft Schweiz ist ein lockerer Verbund von Internet-Aktivisten, der vor allem politische Arbeit leisten will. In ihr vetreten sind die Privacy Foundation, Grundrechte.ch, immerda, Chaos Computer Club ZH/CH, Piratenpartei und Jungparteien. Als Teil der Kampagnen-Strategie wurden Datenauskunftsanfragen an die grossen Provider gestellt; Verbindungsdaten von Natel- und Internet-Anschluss und IP-Adressen gehören gemäss Bundesgerichtsurteil zu den persönlichen Daten. Die Datenauskunftsanfragen wurden mehrheitlich abgewimmelt, mit unterschiedlichen Argumenten, in einelnen Fällen auch ohne. In Sachen der Überwachung des Post- und Fernmeldeverkehrs BÜPF hat die DG vor drei Wochen eine Pressemitteilung versandt. Nun wird sich die DG an die Rechtskomission des Ständerats und an die Ständeräte wenden, die das Geschäft vermutlich in der Sommersession behandeln. Jeglicher direkter Zugang zu Politikern ist von Interesse. Die allgemeine Meinung geht heute dahin, dass einzelne Bürger nichts zu verstecken hätten, und dass es gut sei, Kriminellen das Leben schwer zu machen. Die Erinnerung an Missbrauch solcher Daten – Gestapo, Fichenaffäre, Stasi – ist am verblassen. Solange keine konkreten Schadenfälle unschuldiger Menschen aufgezeigt werden können, ist es schwierig, politisch zu mobilisieren; die Mehrheit der Stimmbürger reagiert auf Einzelfälle. Beim Frühjahrstreffen der digitalen Gesellschaft entstand darum die Idee eines Schreibwettbewerbs.
Schreibwettbewerb
Vorratsdatenspeicherung
Wir wollen Szenarien aufzeigen, wie die Daten auf Vorrat den Einzelnen massiv schädigen können, wenn diese in die falschen Hände, zum Beispiel der Mafia oder amerikanischer Terrorismusbekämpfungstruppen, fallen. Gesucht sind Kurzgeschichten, in der ähnliche Szenarien fiktional beschrieben werden. Die besten Ideen werden durch eine Jury beurteilt, prämiert und als Buch publiziert. Als Beispiel dient hier im Folgenden ein Ausschnitt aus dem Roman «Little Brother» von Cory Doctorow in der deutschen Übersetzung von Christian Wöhrl unter Creative Commons Lizenz (CC-BY-NC-SA).
Little Brother
Erster Tagesordnungspunkt waren die nervigen Schritterkennungs-Kameras. Wie gesagt: Ursprünglich waren da mal Gesichtserkennungs-Kameras, aber die waren ja für verfassungswidrig erklärt worden. Meines Wissens hat sich noch kein Gerichtshof mit der Frage befasst, ob die Gang-Cams tatsächlich legaler sind, und bis dahin hatten wir sie am Haken. «Gang» ist ein schickes Wort für die Art, wie man läuft. Menschen sind ziemlich gut drin, Gang zu erkennen: Wenn du nächstes Mal Camping machst, achte mal auf die Bewegungen des Taschenlampenlichts, wenn ein Freund von weit weg auf dich zukommt. Wahrscheinlich kannst du ihn bloß anhand der Lichtbewegung erkennen, anhand der typischen Art und Weise, wie das Licht rauf- und runterwackelt, was unseren Affenhirnen verklickert: «Da ist ein Mensch, der auf dich zukommt». Schritterkennungs-Software fotografiert deine Bewegungen, versucht, dich auf den Bildern als Silhouette zu isolieren und probiert dann, diese Silhouette mit einer Datenbank abzugleichen, um herauszufinden, wer du bist. Ein biometrisches Identifikationssystem also, wie Fingerabdrücke oder Iris-Scans, hat aber viel mehr «Kollisionen» als die anderen beiden. Eine biometrische Kollision bedeutet, dass eine Messung zu mehr als einer Person passt. Deinen Fingerabdruck hast du ganz allein, aber dein Gang ist ziemlich gleich wie der von etlichen anderen Leuten. Nur «ziemlich», nicht exakt. Dein persönlicher Gang, auf den Zentimeter genau erfasst, ist deiner, ganz allein deiner. Dumm ist nur, dass du nie auf den Zentimeter genau gleich gehst, weil das davon abhängt, wie müde du bist, auf welcher Sorte Untergrund du gehst, ob du deinen Knöchel beim Basketball geprellt hast und ob du kürzlich erst neue Schuhe gekauft hast. Also nähert sich das System deinem Profil mit sowas wie Fuzzy Logic und guckt nach Leuten, die irgendwie so ähnlich gehen wie du. Aber es gibt ne Menge Leute, die irgendwie so ähnlich gehen wie du. Und außerdem ist es simpel, eben nicht irgendwie so ähnlich zu gehen wie du selbst – zieh bloß mal einen Schuh aus. Natürlich wirst du dann so laufen wie «du mit nur einem Schuh» eben immer läufst, und die Kameras werden früher oder später merken, dass du’s trotzdem bist. Deshalb gehe ich meine Angriffe auf die Schritterkennung mit einer Zufallskomponente an: Ich kippe ne Handvoll Kiesel in jeden Schuh. Billig und wirksam, keine zwei Schritte sehen gleich aus. Und klasse Reflexzonenmassage gibt’s gratis dazu (War nur Spaß. Reflexzonenmassage hat um und bei denselben wissenschaftlichen Wert wie Schritterkennung.) Die Kameras waren anfangs so eingestellt, dass sie jedes Mal Alarm schlugen, wenn jemand den Campus betrat, den sie nicht kannten. Gaaanz schlechte Idee. Wir hatten alle zehn Minuten Alarm. Der Briefträger. Irgendein Elternteil. Die Handwerker, die das Basketballfeld reparierten. Sogar bei Schülern mit neuen Schuhen ging der Alarm los. Deshalb versucht das System jetzt bloß noch aufzuzeichnen, wer wann wo ist. Wenn also jemand während der Unterrichtszeit das Schulgelände verlässt, wird der Gang daraufhin abgeglichen, ob es einer der Schüler sein könnte. Und wenn ja, wup-wup-wup, geht die Sirene los. Chavez High ist von Kieswegen umgeben. Ich hab für alle Fälle immer ein paar Hände voll Steinchen in meiner Umhängetasche. Kommentarlos gab ich Darryl ein Dutzend von den kantigen Biestern rüber, und wir füllten beide unsere Schuhe.
Kostenloser Download von «Little Brother»: http://cwoehrl.de/files/lbdt_v1.pdf