Bereits vor neun Jahren machte der Bündner Adam Quadroni die kantonalen Behörden auf ein Bündner Baukartell und jahrelange Preisabsprachen unter Bauherren aufmerksam. Es folgte eine lange Funkstille, bis Whistleblower Quadroni 2017 verhaftet und wegen angeblicher Suizidgefährdung in eine psychiatrische Klinik eingeliefert wurde. Die Journalistin Anja Conzett und der Journalist Gion-Mattias Durband rollten für die Republik den Fall neu auf und lösten damit eine regelrechte Lawine an Ereignissen aus – auch auf politischer Ebene. Unter anderem zog Andreas Felix, Geschäftsführer des Baumeisterverbands und Regierungskandidat der BDP, seine Kandidatur zurück – laut Recherchen war er selber Teil des Kartells. Die Wettbewerbskommission Weko gab bekannt, sie werde bis im Herbst 2018 Sanktionen an alle Beteiligten bekanntmachen. Dass eine Geschichte wie diese noch immer eine derartige Schlagkraft hat, macht vielen Medienschaffenden Mut. Hat der Journalismus in der Schweiz noch immer die Fähigkeit, die Vorstellung von Ethik und Moral zu beeinflussen? Und ist der Shitstorm eine moderne Form des Mobs?
Miriam Suter: Anja, wie lange habt ihr an der Geschichte über das Bündner Baukartell gearbeitet?
Anja Conzett: Alles in allem sechs Wochen. Wir haben diese Geschichte von Seiten beleuchtet, das kannst du dir gar nicht vorstellen. Wir arbeiteten bis zu 14 Stunden pro Tag, sieben Tage die Woche. Gion und ich waren drei Wochen als Reporter im Feld, haben Akten gebüffelt und Gespräche geführt. Dann haben wir geschrieben und unser «Chefdramaturg» Ariel Hauptmeier, der Produktionschef der Republik, hat daraus diesen Netflix-mässigen Krimi gebaut.
MS: Als ich die Geschichte gelesen habe, gingen mir folgende Gedanken durch den Kopf: Wie habt ihr Adam Quadroni dazu gebracht, euch so sehr zu vertrauen? Er, der eh seit Jahren der geschlagene Hund seines Dorfes ist?
AC: Das ist vor allem Gions Verdienst. Er stand im Rahmen seiner Anstellung bei der «Südostschweiz» bereits seit mehreren Jahren in Kontakt mit Quadroni; er hatte da schon an dieser Geschichte gearbeitet. Ich war vor ein paar Jahren Gions Nachfolgerin auf der Redaktion, so haben wir uns kennengelernt. In einer Rauchpause hat er mir damals von dieser Geschichte mit den Baukartellen erzählt und ich, die Amateurin, die ich damals noch war, fragte ihn: «Was sind denn Preisabsprachen?» (lacht.) Unser enges Verhältnis blieb bestehen, als ich die «Südostschweiz» verliess und in die Selbstständigkeit ging. Für mich war immer klar, dass ich die Geschichte für die Republik machen will. Und als ich im letzten Februar erfuhr, dass Gion seine Stelle verloren hatte, habe ich ihn sofort angerufen. Ich hatte schon selbständig einiges recherchiert, wusste aber: Wir brauchen Gion. Er hat den Kontakt, zu ihm hat Quadroni Vertrauen.
MS: Wie seid ihr konkret vorgegangen?
AC: Gion und ich haben eine Woche lang in Scuol gewohnt und waren jeden Tag bei Quadroni zuhause. Für mich war die Bedingung, dass wir die gesamte Recherche nochmals neu aufrollen. Wenn du eine Geschichte hast, die auf einer einzigen Person basiert, dann musst du ganz, ganz sicher sein. Und ich bin sehr kritisch dorthin gegangen. Aber ich erinnere mich, dass ich am zweiten Tag zu Gion gesagt habe: «Shit, er sagt die Wahrheit. Das wird ein verdammter Höllenritt». Von da an gab es für mich keine Zweifel mehr: Wir machen die Geschichte, so hart wie sie ist, so tiefgehend wie nur möglich.
MS: Die Geschichte wurde – wie ein Netflix-Thriller – Stück für Stück aufgeschaltet. Nach der Veröffentlichung überschlugen sich die Ereignisse: Regierungsratskandidat der BDP und Geschäftsführer des Baumeisterverbands Andreas Felix trat zurück, für Walter Schlegel, SVP, den Bündner Polizeikommandant, der für die Verhaftung des Zeugen Quadroni letztverantwortlich war, wird’s auch eng – habt ihr das erwartet?
AC: Es war sehr viel Glück dabei. Die Weko hat uns nicht gesagt, wann sie die Vernehmlassung zur provisorischen Urteilsverkündung der Untersuchung veröffentlichen wird. Und just am Morgen nachdem unsere Geschichte online gegangen war, stand mein Freund bei mir am Bett und hielt mir sein Smartphone mit der Weko-Meldung unter die Nase. Es war der perfekte Sturm, der sich da zusammenbraute. Es war absehbar, dass die Vernehmlassung zur ungefähr gleichen Zeit kommen wird wie unsere Recherche. Aber genau einen Tag nach uns, das war perfektes Timing. Kismet!
MS: Die Geschichte ist ja eigentlich ein Rundumschlag in die Gesichter all dieser patriarchalen Strukturen und Patrons der Bündner Baubranche. Ich will dich nicht fragen, ob du Angst hattest, weil ich weiss, dass du das nicht hast. Aber gab es mal eine Zeit vor der Veröffentlichung, in der du dachtest: «Okay, das wird jetzt heavy»?
AC: Um mich habe ich keine Angst, die Leute dort kannten mich ja schon von der «Südostschweiz», die wissen, dass ich hartnäckig bin – sie können sich schon mit mir anlegen, aber sie verlieren. Was mir wirklich Sorgen bereitet hatte, ist die Tatsache, dass meine Mama noch immer im Graubünden lebt. Ihr Vorname beginnt mit dem gleichen Buchstaben wie meiner, auf ihrem Briefkasten steht also «A. Conzett». Sie kriegte nach der Veröffentlichung der Geschichte Anrufe, bei denen am andere Ende der Leitung nur geschwiegen wurde – vermutlich als Bedrohung. Natürlich, sie steht voll hinter mir und ist mein grösster Fan. Aber ich hatte zu dieser Zeit wirklich Alpträume, dass meine Mutter unter meiner Arbeit leiden könnte.
MS: Gab es Drohungen gegen die Redaktion?
AC: Der Artikel in der Weltwoche (Ausgabe vom 16. Mai «Dichtung und Wahrheit in der Bauaffäre» von Philipp Gut) ging nicht per se gegen die Republik, sondern gegen den Blick und die Schweizer Illustrierte. Gut gibt in seinem Artikel zu, dass er unseren Artikel nur überflogen hat. Auf so Zeug lassen wir uns gar nicht erst ein. Als Journalistin machst du dich unangreifbar, wenn du deine Arbeit sorgfältig und richtig machst.
MS: Gions Familie lebt, wie deine auch, noch im Graubünden, ihr seid beide ab und zu noch dort. Inwiefern gab es aus eurem persönlichen Bündner Umfeld Reaktionen auf die Geschichte?
AC: Lustigerweise ist ein alter Wegbegleiter von mir ein Neffe von Adam Quadroni. Das wusste ich nicht, bis sein Vater, also der Bruder von Quadroni, einen bissigen Kommentar unter dem Artikel auf der Republik-Webseite verfasste. Da dachte ich dann schon: «Dieses Graubünden ist wirklich sehr klein!» Er ist sehr schlecht auf Adam Quadroni zu sprechen. Im Zuge der Recherche haben wir natürlich auch die Familiengeschichte durchleuchtet, also Dinge wie Erbschaften. Dort wurde klar: Quadroni wird gegenüber seinen Brüdern bevorzugt. Dann gab es noch jemanden, der mir politische Motivation vorgeworfen hat. Ich bat ihn dann, das zu konkretisieren, darauf kam nicht mehr viel, aber es war klar, worauf er hinaus wollte: Dass ich die Exfreundin des Churer SP-Grossrats Andri Perl bin. Willst du eine Liste von allen, mit denen ich geschlafen habe? Ich kann sie dir gerne geben! Solche Vorwürfe sind einfach misogyn, nichts anderes. Das ignoriere ich und beschäftige mich nur mit Vorwürfen, die meine journalistische Arbeit betreffen. Dort bin ich abgesichert und kann sagen: Schau, die Sorgfaltspflicht ist überall erfüllt, was willst du? Der betreffende Post wurde übrigens mittlerweile gelöscht.
MS: Denkst du, der Shitstorm ist der neue Mob?
AC: Ich habe mit beiden Begriffen Mühe. Shitstorm und Mob: Das hat beides den Geruch von Selbstjustiz. Und das war die Geschichte in diesem Fall ja nicht. Sie hatte einen extremen Einfluss, eben weil es keine Selbstjustiz war. Ein Shitstorm bedeutet für mich, dass man Dinge nicht mehr hinterfragt, ob etwas richtig oder falsch ist. Sondern in eine Tretmühle fällt, in der richtig und falsch bereits gesetzt sind.
MS: Kannst du ein Beispiel nennen?
AC: Ein gutes Beispiel ist für mich der Fall einer Highschoolschülerin aus den USA, die zu ihrem Abschlussball ein Kleid trug, das optisch stark an traditionelle asiatische Gewänder angelehnt war. Da kam in den Sozialen Medien furchtbar schnell der Vorwurf von cultural appropriation. Dabei heisst es doch nicht, dass sie eine Rassistin ist, nur weil sie dieses Kleid trägt. Sie fand das einfach schön, für sie war das wohl eher eine Würdigung als eine Herabstufung dieser Kultur. Sie trug das Kleid ja auch nicht im Alltag, sondern an ihrem Abschlussball! Und woher will die wilde Meute auf Social Media, die das Mädchen mit ihren Kommentaren zerfleischt hat, wissen, dass sie keine asiatische Ururgrossmutter hat? Dieses moralische Selbstverständnis kann sehr gefährlich sein. Für mich sind Shitstorm und Mob immer gleichgesetzt mit einem Pranger. Was es aber natürlich gibt, ist ein Rechts- und ein Unrechtsbewusstsein in den Medien. Was nach der Veröffentlichung unserer Geschichte geschah, ist für mich ein Paradebeispiel dafür. Ich habe die Schweizer Medien schon lange nicht mehr so geschlossen erlebt. Es war klar: Hier wurde Scheisse gebaut und es ist unsere Aufgabe als Medien, darauf aufmerksam zu machen. Egal, ob es gesetzeskonform war, was geschah, also egal, ob die Weko etwas gegen den Baumeisterverband tun kann oder nicht: Was da gelaufen ist, war nicht korrekt. Aber dazu gehört auch, sich mit den Menschen dahinter auseinanderzusetzen. Um nochmal auf mein genanntes Beispiel zurückzukommen: Niemand hat mit dem Mädchen gesprochen, welche Gedanken sie sich zu diesem Kleid gemacht hat. Und das ist der Unterschied. Im Journalismus gilt: Fairness ist alles, Vorverurteilung das Ende der Glaubwürdigkeit.
MS: Inwiefern?
AC: Wenn du jemandem eine Plattform gibst, einen so schweren Vorwurf zu erheben, dann musst du sicher sein, dass du in diesem Moment fair bist. Das macht auch die Kraft dieser Geschichte aus. Gion und ich gingen als Andreas Felix ins Bett und wachten als Adam Quadroni auf. Wir haben diese Leben gelebt, wir kennen diese Menschen seit Jahren. Ich weiss, wie Felix’ Frau aussieht, eine sehr liebe, unscheinbare, Dame, ich weiss, dass sie drei Kinder haben. Kein Mensch ist nur schlecht. Und dieser Gedanke ist sehr wichtig. Auch ein Bauunternehmer Roland Conrad hat irgendetwas Gerades in seinem Krummen. Zum Ausdruck zu bringen, dass hier Mechanismen spielen, dass es um das ganze Gefüge geht, und nicht um einzelne Personen, das ist essentiell.
MS: Das Aufzeigen von Strukturen, das Kritisieren davon und das Darstellen der Gründe, warum sie eben funktionieren, sehe ich auch als Kernkompetenz von gutem Journalismus. Funktionieren die Medien also als Korrektiv einer Gesellschaft?
AC: Was sind wir denn, wenn nicht das? Wofür sind wir dann überhaupt da? Gerade in einer Zeit, in der die Schweizer Medien bis zum Gehtnichtmehr gebeutelt werden, ist es wichtig, dass Journalistinnen und Journalisten zusammenstehen. Natürlich, ich arbeite bei einem Medium, das zumindest anfangs auch bei Medienschaffenden selber nicht nur einen guten Stand hatte. Aber die Schweizer Journalistinnen und Journalisten sind grossmehrheitlich verdammt feine Menschen, eine aufrichtige Bande, egal wo sie arbeiten. Menschen, die sich Mühe und jeden Tag ihr Bestes geben. Wir bei der Republik sind nicht die besten Journalistinnen und Journalisten der Schweiz. Wir haben einfach Möglichkeiten, die andere so nicht haben. Das zeigt auch die Baukartell-Geschichte: Wir haben nichts Neues gebracht mit dieser Story, wir konnten einfach in die Tiefe und in die Breite arbeiten. Und das ist die Daseinsberechtigung der Republik.
MS: Trotz der aktuellen Lage des Schweizer Journalismus: Schafft er es wirklich, die Vorstellung von Moral und Ethik der Menschen zu verändern? In Zeiten von Fake News scheint das eine der grössten Herausforderungen für den Journalismus zu sein.
AC: Du musst Moral und Ethik nicht verändern, die sind jedem Menschen gegeben, das ist ja das Schöne. Ich habe ein Jahr lang bei der Schweizer Illustrierten gearbeitet, genau aus diesem Grund: Ich habe mich bewusst für den Boulevard entschieden, weil ich dort ein Publikum erreichen konnte, das mir sonst unerreichbar ist. Ich konnte die entsprechende Sprache lernen, mir das Handwerk aneignen, das ich noch nicht hatte, und das mir geholfen hat – schlussendlich auch bei der Baukartell-Geschichte! Du musst nicht das moralische oder ethische Empfinden der Menschen verändern – du musst nur daran appellieren. Ich glaube wirklich, dass fast alle Menschen einen Sinn für Gerechtigkeit und Empathie haben. Du musst diesen Fokus setzen, und das geht nur mit Empathie. Das geht nicht, wenn du Menschen einfach scheisse findest und belächelst. Jeder Mensch hat seine Geschichte, seinen Weg. Und sie dort abzuholen, wo sie sind, manchmal auch einfach dort zu lassen, das ist die grosse Herausforderung im Journalismus: Diese Spannung auszuhalten.