Der Klimawandel «ist eine katastrophale, globale und existenzielle Bedrohung für die Menschheit. Für dich und deine Familie.» So heisst es auf der Website von Extinction Rebellion (XR). Unter diesem Namen protestieren Gruppen in verschiedenen Ländern gegen die Klimakrise und die Untätigkeit der Regierungen. Um sich bei Regierung und Bevölkerung Gehör zu verschaffen, benutzen sie Methoden des zivilen Ungehorsams und gewaltfreien Protests wie Sitzstreiks, bei denen sie sich freiwillig verhaften lassen. Ein Gespräch mit einer Rebellin von XR Zürich über Methoden, Ziele und Streitpunkte innerhalb der Gruppe.
Sophie J. Steinbeck: Wie bist du zu Extinction Rebellion gekommen?
Saskia Dümmel: Ich bin seit März 2019 dabei. Ich bin überhaupt nicht umweltbewusst aufgewachsen. Der Film «Tomorrow» hat mich aufgerüttelt: Da muss man doch was machen, das hält man nicht aus. So bin ich auf XR gekommen. Meist geht man erst zu einem Newbie-treffen oder einem Talk und kommt dann ins Plenum. Mittlerweile sind wir bei ca. 50 aktiven Mitgliedern, darum herum schwirren vielleicht um die 100, die zu den Aktionen kommen.
SJS: Was ist deine Aufgabe bei XR?
SD: Es gibt verschiedene Arbeitsgruppen. Anfangs war ich ein bisschen überall, das ist neben dem 100% Job und Kind viel. Jetzt bin ich eine von zwei Koordinatorinnen bei der «Regenerativen Kultur». Bei vielen kommen grosse Emotionen auf bei der Beschäftigung mit der Thematik, vor allem Angst. Die Regenerative Kultur soll dem Raum geben. Wir organisieren non-violent direct action Trainings und wollen innerhalb von XR Leute ausbilden, diese Trainings zu geben. Am Mittwoch probieren wir einen Empathiekreis aus. Wir schreiben auch Dokumente über Konfliktvermittlungsabläufe und organisieren gerade eine erste Party. Ich bin auch bei der Planung von konkreten Aktionen dabei.
SJS: XR ist eine internationale Bewegung, die erstmals in England gegründet wurde. Wie seid ihr aufgebaut und vernetzt?
SD: Es gibt Vernetzungen in alle Richtungen. In der Organisation von Aktionen sind die Ortsgruppen frei, was sie machen wollen, solange es den Prinzipien des Rebellionkonsenses entspricht. Alles, was mit Gewalt zu tun hat, ist ein No-Go. Die Grundstruktur und das Design, wie zum Beispiel das Logo, ist bei allen Ortsgruppen gleich. Diese Grundstruktur gibt auch vor, dass die Gruppe dezentral ist und hierarchiefrei und mit verschiedenen Ansätzen von Selbstorganisation arbeitet, zum Beispiel mit Holokratie. Das ist ein System der Entscheidungsfindung, die auf Transparenz, Partizipation und der Aufteilung in klare Rollen innerhalb der Gruppe beruht.
SJS: XR verfolgt drei Hauptziele: das Ausrufen des Klimanotstands, die Eindämmung der Treibhausgase auf Nettonull bis 2025 und das Einsetzen einer Bürgerinnenversammlung. Wie soll sich diese Bürgerinnenversammlung zusammensetzen? Was für Aufgaben soll sie konkret übernehmen?
SD: Die Versammlung soll aus der Bevölkerung ausgelost werden. Sie soll die Bevölkerung repräsentieren und widerspiegeln: Alter, Geschlecht, Bildungsprofil, Herkunft. Seit einem Monat gibt es eine eigene Arbeitsgruppe zur Bürgerinnenversammlung. Grundsätzlich sollen automatisch alle im Topf sein, auch nicht Wahlberechtigte, ähnlich wie im amerikanischen Jury-Service. Die Bürgerinnenversammlung soll zunächst eine beratende Funktion für die Politik haben, später sollen die Bescheide, die sie fällt, auch rechtlich Gewicht haben. Der Ablauf dieser Bürgerinnenversammlung sieht ungefähr so aus: Erst wird sie von verschiedensten Expertinnen, die von unabhängigen Organisationen ausgewählt werden, zum jeweiligen Thema informiert. Zusätzlich sollen die Leute, die am meisten von der Klimakrise betroffen sind, in diesem Podium vertreten sein. In Kleingruppen, die moderiert geführt werden, damit alle etwas beitragen und niemand dominant auftritt, werden dann konkrete Vorschläge ausgearbeitet und darüber abgestimmt. Die angenommenen Vorschläge werden als Empfehlungen zurückgetragen in die Gesamtheit für eine grosse Abstimmung. Wichtig ist, dass alle Sichten repräsentiert sind, dass umfassend informiert wird, dass es wirklich professionell aufgezogen wird.
SJS: In der Schweiz wurde in verschiedenen Kantonen, u.a. in Basel-Stadt, Waadt und im Jura, der Klimanotstand ausgerufen. Der Kanton Thurgau richtet eine Koordinationsstelle ein, die konkrete Klimaschutzziele erarbeiten soll. Kommt es in der Klimapolitik endlich zu den notwendigen Handlungen?
SD: Handlungsmässig sind das wenig wirksame Schritte, überhaupt nicht angemessen. Treibhausgase Netto Null bis 2050 ist auch viel zu spät. Das ist wie ein Grossbrand, und wir kommen da mit Wassergläsern und versuchen das zu löschen. Wir wollen den nationalen Klimanotstand ausgerufen haben. Dazu gehört, dass die Medien das prominent kommunizieren. In Grossbritannien wurde nach der elftägigen Rebellion von XR im April der Klimanotstand ausgerufen, aber danach war Flaute, nichts ist passiert. Dann geht’s halt weiter mit der Rebellion. Man denkt in dem Rahmen der Politik, wie sie heute ist. Darum sagen wir: Ok, wir brauchen wohl andere Massnahmen, dann muss man vielleicht die Demokratie anpassen, dass das jetzt funktioniert. Weil wir einfach keine Zeit mehr haben!
SJS: Wie muss eine Klimapolitik gestaltet sein, damit sie nicht die Ärmeren trifft?
SD: Dort setzt unsere dritte Forderung an: die Entscheidungen zurückzugegeben an die Bevölkerung. In der SOPHIA Studie «Forum des 100» aus Lausanne und Bern wurden Leute befragt, was für Massnahmen es geben müsste gegen den Klimawandel. Politik und Wirtschaft würden eher in Richtung Anreizsystem und Besteuerung gehen, während die Bevölkerung Verbote will. Viele würden sich wünschen, dass es gewisse Sachen einfach nicht mehr gibt. Hinter der Politik heute stehen Wirtschaftsinteressen und Wieder-gewählt-werden. Das entspricht nicht dem, was die Bevölkerung will, also trifft es auch eher die Ärmeren. Wenn man das in die Hände der Bevölkerung legt, könnte man dem entgegenwirken. Das hat man ja festgestellt, dass Leute, selbst wenn sie davor nicht viel Wissen zu einem Thema hatten, gute Entscheidungen treffen können, wenn sie davor in so einer Versammlung informiert werden.
SJS: In einem Artikel im Guardian wird der Bewegung in Grossbritannien eine «carelessness around issues of race» vorgeworfen. XR arbeitet bewusst mit der Polizei, lässt sich verhaften und spricht sich gegen Beleidigungen der Polizistinnen aus, bedankt sich sogar bei ihnen, während schwarze Menschen täglich Polizeigewalt ausgesetzt sind und deshalb diese Strategie nicht so einfach mitmachen können. Wie ist dieser Sachverhalt in der Schweiz zu bewerten? Spricht XR vorwiegend weisse, privilegierte Menschen an?
SD: Die Arbeit bei XR ist viel mehr, als sich verhaften zu lassen. Die Arbeitsgruppen bieten Raum für alle möglichen Leute. Niemand muss etwas, machen was ersie nicht will oder was aufgrund seiner/ihrer Herkunft ungünstig wäre. Vielmehr sollten Leute, die sich verhaften lassen, darauf aufmerksam machen, dass es für sie einfach ist, weil sie weiss und privilegiert sind. Ich leugne aber nicht, dass es gewisse Leute mehr anspricht. Die kommen vielleicht eher aus einer weissen, privilegierten Ecke, wo die Themen sowieso schon diskutiert werden. Mit dem sechsten Prinzip sprechen wir uns aber klar dafür aus, dass wir keinerlei diskriminierendes Verhalten oder diskriminierende Sprache dulden, und dass sich jeder willkommen fühlen soll. Es ist ja nicht so, dass wir denken: weiss und privilegiert, cool, das lassen wir so. Wir wollen wirklich alle ansprechen, denn schlussendlich braucht es einfach alle!
SJS: Co-Gründer Roger Hallam sagte kürzlich in einem Interview: «Anders als klassische linke Bewegungen schliessen wir niemanden aus, auch jemand, der ein bisschen sexistisch oder rassistisch denkt, kann bei uns mitmachen.» Sollte eine progressive Bewegung, um die 3,5 % der Bevölkerung zu erreichen, die laut Studien für eine erfolgreiche Bewegung notwendig sind, auch Standpunkte vertreten, die «ein bisschen rassistisch und sexistisch» sind?
SD: Das ist sehr heiss diskutiert worden, auch innerhalb von XR. Man muss betonen, dass Roger Hallam kein Anführer ist. Er ist ein Vordenker und eines von vier Gründungsmitgliedern. Teilweise distanzieren wir uns auch von seinen Äusserungen. Es gibt einen Unterschied, zu sagen: Menschen sind bei uns nicht willkommen, oder: ein gewisses Verhalten ist bei uns nicht willkommen. Menschen sind bei uns grundsätzlich willkommen, aber sobald es diskriminierendes Verhalten gibt, wird darauf angesprochen und verwarnt, und wenn es nicht aufhört, gibt es einen Ausschluss. Wir können dieses Ziel nicht um jeden Preis erreichen. Und wenn es Leute gibt, die sich diskriminierend verhalten, verlieren wir andere Leute.
SJS: Ist XR eine linke Bewegung?
SD: Hier in der Schweiz werden wir sehr links eingeordnet. Aber wir sagen ganz klar: Wir sind unpolitisch. Wir sind nichts von dem, oder hoffentlich vieles. Ich nehme das wirklich so wahr in Zürich. Natürlich wird’s bei unserem Rebellionskonsens (einem Selbstverständnis, das alle XR Gruppen teilen) schwierig für Nationalsozialisten, sich wohlzufühlen. In Berlin finden die Linksradikalen XR zu lasch, nicht krawallig genug, und von den Rechten heisst es, wir wollen die Demokratie abschaffen. Dabei diskutieren wir nicht, ob man das System stürzen soll, und das ganz bewusst. Natürlich haben wir alle eine persönliche Meinung, aber es ist viel wichtiger, dass wir uns immer wieder an das grössere Ziel erinnern und uns nicht wegen Meinungsverschiedenheiten zerstreiten. Dadurch, dass wir keine konkreten Massnahmen ausarbeiten, erledigen sich viele Uneinigkeiten von selbst. Wir wollen so viele Leute wie möglich ansprechen, das Konkrete geben wir dann an die Bürger*innenversammlung – sobald sie aufgebaut ist.
SJS: Einer der Leitsätze der XR ist der «gewaltfreie Protest». Was bedeutet gewaltfreier Protest für eure Aktionsformen? Wie gehen gewaltfreier Protest und Radikalität zusammen?
SD: Strikte Gewaltfreiheit in Verhalten, Sprache, Gestik; keine Beleidigungen gegenüber Polizistinnen oder skeptischen Leuten. Einfach ein respektvoller Umgang innerhalb und ausserhalb der Gruppe, auch keine Sachbeschädigungen. Ziviler Ungehorsam ja – die Störung des öffentlichen Lebens, um aufrütteln zu können für die Bedrohung, die da ist. Es geht um Konsequenz, Beharrlichkeit, um wenig Kompromissbereitschaft im Angesicht der Problematik. Aber radikal? Der Ursprung dieses Wortes kommt aus dem Lateinischen. Es heisst «Wurzel» und bedeutet in unserem Fall, dass man gesellschaftliche und politische Probleme bei der Wurzel anpackt und nachhaltig und umfassend löst. Unsere Massnahmen sind schon andere als zum Beispiel bei Fridays for Future. Die rechtliche Grenzüberschreitung wird in Kauf genommen, als persönliche Entscheidung. Ich würde aber nicht sagen, dass unsere Methoden radikal sind; sie sind notwendig. Radikal ist, dass bis jetzt nichts anderes gewirkt hat. Aus unserer Perspektive ist gewaltfreier ziviler Ungehorsam das Beste, was wir haben. Wir sagen nicht, dass wir von XR das alles lösen können. Wir sind hauptsächlich die Alarmglöckchen. In der SOPHIA-Studie heisst es auch, 69% der Politikerinnen finden selbst, sie seien überfordert, diese Klimakrise wirklich gut zu bearbeiten. Da soll die Bürger*innenversammlung eine Hilfestellung sein.
SJS: Es gibt nicht nur prominente Fürsprecher*innen zu XR, sondern auch Kritik, etwa von der ehemaligen deutschen Grünenpolitikerin Jutta Ditfurth. Sie beschreibt die Bewegung als «religiöse-gewaltfreie esoterische Sekte».
SD: Unsere Grundlagen sprechen total dagegen. Wir haben keinen Anführer, keine Hierarchie, es wird dem Individuum keine Autonomie entzogen. Wir irritieren, weil wir schwierig einzuordnen sind: Wir entziehen uns dem politischen Schwarz-Weiss-Denken, wir stören die öffentliche Ordnung, aber gewaltfrei. Da können die Leute nicht sagen: das sind einfach die gewaltbereiten Chaoten, da müssen wir nicht zuhören. Oft werden wir gefragt: Was unterscheidet euch denn von gewaltbereiten Chaoten? – Einfach alles! In unserem Kulturkreis ist der Ansatz der Regenerativen Kultur sehr speziell, dieses sich wirklich umeinander Kümmern, und Spiritualität und Emotionen Platz zu geben. Das hat anderen Bewegungen in der Geschichte vielleicht gefehlt, sie sind gescheitert, weil viele Leute ausgebrannt sind. Das hat meiner Meinung nach wenig mit Esoterik zu tun. Es geht darum, eine neue Kultur aufzubauen, wo das Menschliche wieder mehr Platz hat. Wir sagen: Nimm nur soviel du kannst, wir brauchen dich noch länger, teil deine Kräfte gut ein. Also versuchen wir auch Gefässe zu schaffen, wo man regelmässig ansprechen kann, wie es einem geht. Es kommt viel an Gefühl, wenn man sich diese wissenschaftlich heftige Lage einmal wirklich ansieht.
SJS: Was wünscht ihr euch von der Bevölkerung in Zürich?
SD: Vor allem ein offenes Ohr für die Wissenschaft und den heutigen Erkenntnisstand. Sich einfach mal anhören, was wirklich los ist, wie dringend und krass das eigentlich ist. Ich würde mir wünschen, dass in der Bevölkerung mehr wahrgenommen wird, warum wir das machen. Wir werden immer mehr Leute, das gibt immer mehr Druck.