Der Name Seidenstrasse oder Silk Road wird meist auf den deutschen Geografen Ferdinand Freiherr von Richthofen zurückgeführt. Er hatte den Begriff im Rahmen seiner Studien über das chinesische Kaiserreich im 19. Jahrhundert geprägt. Im Jahre 1877 veröffentlichte einen Vortrag unter dem Titel «Über die centralasiatischen Seidenstrassen bis zum 2. Jahrhundert nach Christus», den er vor der Gesellschaft für Erdkunde gehalten hatte. Wurde schon damals über mehrere Seidenstrassen berichtet, so gilt der Plural auch heute im Zusammenhang mit den zahlreichen Projekten, die von der chinesischen Regierung organisiert und unterstützt werden.

Die aktuellen chinesischen Seidenstrassenprojekte werden seit 2013 auch unter den Begriffen «One Belt, One Road (OBOR)» oder «Belt and Road» kommuniziert. «One Belt» spielt hierbei auf die alte Idee der Seidenstrasse zu Land an, während «One Road» auf den maritimen Handel fokussiert. Man sollte die Begriffe jedoch nicht zu eng fassen, denn die chinesische Seite spielt mit den Begriffen in einem Umfang, der Westeuropäern eher fremd ist. Auch lassen sich manche Verträge, deren Unterzeichnung mit einer beeindruckenden Zeremonie vollzogen wurde, eher als Absichtserklärungen verstehen. Ein «Chinese Contract» wird zwar feierlich unterzeichnet, ist im Detail jedoch vielfach vage und lässt sich eher als Vereinbarung verstehen, gemeinsam zu Wohlstand zu kommen.

Die Zahl der OBOR-Projekte ist daher nicht wirklich überschaubar. Manches Projekt hat sich aus den unterschiedlichsten Gründen plötzlich als undurchführbar gezeigt, nur um kurz drauf wie der Phönix aus der Asche wieder aufzutauchen. Daher soll im Folgenden auch keine Bestandsaufnahme zu einem bestimmten Stichtag erbracht werden. Ziel ist vielmehr das Aufzeigen zahlreicher Facetten der Projekte, die unter dem Begriff OBOR oder Seidenstrassen segeln.

Die Projekte umfassen zumeist Infrastrukturmassnahmen und gehen weit über den Strassenbau hinaus. Neben Fernstrassen und Bahnstrecken fallen auch Brückenbauten, Gas-Piplines, Häfen und Kraftwerke in die Rubrik OBOR. Letztlich geht es um die Vernetzung der chinesischen Wirtschaft mit der Welt. Derzeit bestehen mehr oder weniger konkrete Rahmenvereinbarungen mit etwa 70 Staaten, in welchen über die Hälfte der Weltbevölkerung leben. Mit dem Netzwerk der OBOR-Projekte will sich die Regierung in Beijing nicht zuletzt auch der zunehmenden Einkreisung durch die USA entziehen. Man blickt in diesem Zusammenhang auf die in den letzten Jahren erfolgte Umzingelung des großen Nachbars Russland durch die Erweiterung der Nato Richtung Osten bis kurz vor die russische Grenze.

Auch wenn sich die einzelnen Projekte durchaus signifikant unterscheiden, haben sie doch einen durchgehenden gemeinsamen Punkt. Und der erinnert durchaus an frühere Entwicklungshilfemodelle europäischer Staaten. Auch dort ging es nicht zuletzt um die Förderung der heimischen Industrie beim Export in Entwicklungs- und Schwellenländer. Während sich die Staaten Europas bislang nicht auf eine einheitliche Entwicklungspolitik einigen konnten und unterschiedliche nationale Ziele verfolgen, hat China den Vorteil, dass seine Zentralregierung die Entwicklung bei Bedarf am straffen Zügel führen kann. Zudem hat China den kaum zu schlagenden Vorteil, über große Devisenvorräte zu verfügen, die nach Anlagemöglichkeiten suchen. Da der Kauf von Hightech-Firmen in jüngster Zeit vermehrt durch staatliche Einsprüche der USA und europäischer Regierungen behindert wird, bieten die Infrastrukturprojekte eine beachtliche Bandbreite an Investitionsmöglichkeiten.

Absatzförderung für chinesische Konzerne

Unter dem OBOR-Dach finden sich jedoch nicht nur Infrastruktur-Investitionsprojekte, die zumeist von chinesischen Firmen mit chinesischer Technik und chinesischen Arbeitern realisiert werden, sondern auch solche, welche die vorhandene Infrastruktur nutzen und zu einem Service-Paket zusammenfassen. Ein Beispiel dafür sind die Güterzüge zwischen verschiedenen Städten in der EU und der Volksrepublik China. Die Güterzüge benötigen nur etwa die halbe Zeit, welche für die Schiffsfracht benötigt wird. Zudem haben die Bahntransporte den Vorteil, dass China damit einer möglichen Blockade des Seewegs nach Europa vermeiden kann, wie er in Strategiemodellen US-amerikanischer Think Thanks immer wieder auftaucht.

Güterzugverbindungen zwischen China und Europa

Zu den bekanntesten eurasischen Güterzugverbindungen zählt inzwischen die Strecke zwischen Chongqing, einer Stadt in Zentralchina, und Duisburg, dem weltgrößten Binnenhafen. Seit 2011 fährt der bis zu 650 Meter lange Zug der YuXinOu Logistics Company Ltd. mit bis zu 50 Normcontainern die etwa 11.200 Kilometer lange Strecke von China über Kasachstan, Russland, Weißrussland und Polen nach Deutschland. Er benötigt dafür etwa zwei Wochen. Verkehrten ursprünglich nur drei Züge pro Woche, hat sich die Frequenz inzwischen auf mindestens einen Zug pro Tag erhöht. Neben Duisburg werden mit den direkten Zugverbindungen inzwischen auch andere europäische Städte angefahren. Die Zahl der wöchentlichen Verbindungen steigt weiter und lag zuletzt bei 20 Zügen pro Richtung und Woche.

Bekannt sind Łódź und Warschau in Polen, Lyon in Frankreich, Madrid und Hamburg, die Partnerstadt von Shanghai, die traditionell auch der Europastandort zahlreicher chinesischer Firmen ist. Die Züge fahren auf s drei Routen ,die über große Strecken durch Russland führen. Die westlichen Sanktionen gegen Russland haben nach Aussage beteiligter Speditionen keinen Einfluss auf den Betrieb der Direktzüge gehabt. Die Züge verkehren weiter mit einer sehr hohen Pünktlichkeit, auch wenn sich westliche Partner aufgrund der bestehenden Sanktionen aus der direkten Zusammenarbeit mit der Russischen Eisenbahn zurückgezogen haben. Wer jetzt vermutet, dass die eurasischen Güterzüge nur chinesische Waren nach Europa liefern, hat sich getäuscht. So transportiert ein Zug von Leipzig nach Shenyang regelmäßig Autoteile von BMW ins Werk in der chinesischen Provinz Liaoning.

Neue Bahnstrecken und alte Konflikte

Nachdem China im eigenen Land mehrere Hochgeschwindigkeitsstrecken realisieren konnte, strebt das Land mit seiner Bahntechnik inzwischen verstärkt ins Ausland. Bekannt wurden hier vorwiegend die in Afrika neu angelegten Strecken, welche das Hinterland mit der Küste verbinden. Im asiatischen Umfeld geht es um die Erweiterung der nach Tibet führenden Bahnstrecke Richtung Nepal, einem Land, das sich verkehrstechnisch bislang ausschliesslich nach Indien orientierte. Dass Indien, welches bislang im Gegensatz zum Nachbar Pakistan keinen OBOR-Vertrag unterzeichnet hat, darüber nicht besonders erfreut ist, lässt sich nachvollziehen.

Aber auch andere Bahnprojekte der Regierung in Beijing sorgen immer wieder für Aufregung. Dazu gehört der Plan einer Bahnstrecke von Kunming nach Bangkok. Die Idee, eine Bahnstrecke von Bangkok über den Mekong bei Vientiane und weiter durch Laos bis nach Kunming zu führen, besteht schon seit vielen Jahren. Er konnte jedoch bislang nicht realisiert werden. Derzeit präferiert die Regierung in Bangkok eine Schnellfahrstrecke, welche von chinesischen Firmen mit chinesischen Arbeitern errichtet werden soll und von der thailändischen Regierung für die Strecke von Bangkok bis Nong Khai an der Grenze zu Laos finanziert wird. Befürchtet wird in Bangkok jedoch, dass sich das Land, dessen Bahninfrastruktur durchaus eine Modernisierung benötigt, mit dem Kauf der chinesischen Technik zu sehr vom großen Nachbar abhängig machen würde. Lieber würde man sich den Aufbau einer eigenen thailändischen Bahntechnikproduktion wünschen, so wie man es im Bereich der Automobilindustrie mit dem Standort Rayong östlich von Bangkok inzwischen umsetzen konnte. Das Königreich Thailand, das bis in die 1970er-Jahre dem großen Nachbarn noch über die Stellung von Geiseln aus wohlhabenden Bangkoker Familien verbunden war, hat zuletzt im Zusammenhang mit der Öffnung seiner Märkte für chinesische Agrarprodukte feststellen müssen, dass die heimischen Landwirte dem Ansturm der chinesischen Agrarprodukte oft nicht gewachsen waren.

Schiffsfracht und Häfen

Zu den bekanntesten europäischen Häfen, in welche sich chinesische Investoren eingekauft haben, zählt Piräus. Dort gab es massive Proteste der Hafenarbeiter, als die staatliche China Ocean Shipping Company (Cosco) im Jahre 2009 für zwei Piers einen Leasingvertrag über 35 Jahre unterzeichnete. Heute ist der Hafen wieder profitabel und entwickelt sich zum Waren-Eingangs-Zentrum für Fracht, die aus Fernost über den Suezkanal nach Europa kommt. In Rotterdam soll Cosco-Tochter Cosco Shipping Port inzwischen mehr als ein Drittel der Anteile am Euromax-Terminal halten. Cosco ist jedoch nicht der einzige chinesische Investor, der sich weltweit in Seehäfen einkauft. Die ebenfalls staatliche China Merchants Group (CMG) soll inzwischen in 31 Häfen in 18 Ländern investiert haben. Und dass sich die chinesischen Hafen-Interessen nicht auf Europa und das Mittelmeer beschränken, wo man sich auch in Israel und Ägypten eingekauft hat, zeigt sich am Hafen von Melbourne, an dem sich die China Investment Corp. beteiligt hat.

Chinesische Investitionen in europäische Netzbetreiber

Die chinesischen Investitionen europäische Energieversorger konzentrieren sich bislang auf Portugal, das Gründungsmitglied der Asia Infrastructure Investment Bank (AIIB) ist und als Sprungbrett in die ehemaligen portugiesischen Kolonien dienen könnte. In Deutschland waren die Versuche der chinesischen State Grid, sich an einem Netzbetreiber zu beteiligen, nicht von Erfolg gekrönt.

Chinesisch-schweizerisches Freihandelsabkommen

Wie flexibel chinesische Handelspartner sein können, zeigt das aktuelle Freihandelsabkommen zwischen der Volksrepublik China und der Eidgenossenschaft. Darin wird unter anderem geregelt, dass immer dann, wenn es in der Schweiz keine Erdbeeren gibt, die man zu Konfitüre verarbeiten könnte, diese aus China importiert werden dürfen und das Ergebnis dennoch als Swiss Made bezeichnet werden darf.

Christoph Jehle war nach der Promotion an der Universität Freiburg im Breisgau als Texter, Projektmanager und technisch-wissenschaftlicher Berater in Deutschland, Belgien und Fernost unterwegs. Seit 20 Jahren schreibt er als freier Autor über Energie- und Europa-Themen, die Fotobranche und das Leben im Schneckental südlich von Freiburg.

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