Das ist eine Abtreibungsgeschichte einer Person, die in der Schweiz lebt, keine sexualisierte Gewalt erfahren hat – zumindest nicht in diesem Fall – Zugang zu medizinischer Versorgung erhielt, weiss ist und keine Behinderung hat und auch sonst einen Haufen Privilegien geniesst, wie gute Freund:innen und eine kümmernde Familie. Das nur vorab, denn: Es hätte weitaus schlimmer werden können. Aber es war schlimm genug.

Ich war im letzten Jahr des Gymnasiums, als ich meine erste Abtreibung hatte. Ich hätte nie gedacht, dass ich mal abtreiben würde. Nicht, weil ich dachte, dass mir «so etwas nie passieren» würde, sondern weil ich tatsächlich dachte, dass, wenn mir «so etwas passieren» würde, ich «dem Scheiss halt einfach durchziehen» würde. Mit «der Scheiss» ist die Schwangerschaft und die darauf folgende Mutterschaft gemeint.
Als Teenager, der ich zu dem Zeitpunkt noch war, hatte ich bis dahin immer noch die verklärt romantische Vorstellung, dass jung Mutter zu werden doch irgendwie ganz cool sei. Das änderte sich ziemlich bald, als ich es tatsächlich hätte werden können.
Mir war in meinem Leben noch nie so übel – und die Schwangerschaftshormone waren wohl nur eine der Gründe dafür. Es war der absolute Horror. Und es kam so zustande, wie man es sich bei verantwortungslosen Jugendlichen, die unfreiwillig schwanger werden, vorstellt: durch ungeschützten Sex an einem Musikfestival. Die Sache ist: Ich wusste nicht, dass er ungeschützt war. Weil ich zu betrunken war, um es zu merken oder mich überhaupt daran zu erinnern. Solche Sachen kommen vor, aber nicht alle Beteiligten müssen die Konsequenzen davon tragen.
Der Typ, dessen Spermien uneingeschränkt in mich eindrangen, erinnerte sich sehr wohl daran, wie mir zu spät bewusst wurde. Damals war er mein Freund und wirklich kein übler Kerl. Er war einige Jahre älter aber anscheinend nicht alt genug, um auf die Idee zu kommen, dass mir nicht vollumfänglich klar war, was letzte Nacht geschehen ist und mir deshalb auch nichts davon erzählte, dass wir kein bisschen verhütet hatten. Ich nahm also keine «Pille danach», die das Schlimmste hätte verhindern können.
Einige Wochen danach pinkelte ich auf einen Schwangerschaftstest, der innerhalb von Sekunden alle nötigen Striche anzeigte um zu signalisieren: schwanger. Ich hätte keinen Test machen brauchen. Mein Körper fühlte sich maximal merkwürdig an, heiss und hyper, die Hormone fingen wohl bereits an mir das Hirn zu zerfressen. Es war alles völlig klar. Und es war der absolute Horror.
Man stellt sich ja immer vor, dass sowas passieren kann, als Person mit Uterus, ich jedenfalls. Wenig überraschend ist die Realität aber eine völlig andere. Mein nicht übler Freund war lieb, sagte Sachen wie: Ich unterstütze dich, egal, wofür du dich entscheidest. Vielleicht sagte er auch: Es ist ganz deine Entscheidung. Ich weiss es nicht mehr, allerdings fühlte es sich so an; und das nicht auf die gute Weise. Denn es war völlig klar – es war meine Entscheidung und meine ganz alleine. Denn das ist man in einer solchen Situation: unglaublich, unerträglich alleine.
Ich war wie in Trance und mein ganzer Körper schrie: Nein. Nein. Nein. Verdammt nochmal: Nein. Ich war realtiv überrascht über dieses starke Gefühl, weil ich wirklich bis dahin dachte, dass ich, eben, den Scheiss einfach durchziehen würde. Aber das einzige, was ich wollte, war möglichst schnell aus dieser Situation herauszukommen. Ich wollte meinen Körper zurück, keine Teenagerschwangerschaft haben, nicht die schwangere Person im Gymnasium sein, nicht mit Kind als Mutter Zuhause versauern. Ich erinnere mich daran, wie ich bereits damals höllische Angst vor der Einsamkeit als Mutter hatte. Und ich wollte diese unglaubliche Übelkeit loswerden.
Wir besprachen die Sache also, weil man das natürlich tut, auch wenn einem der Bauch schon längst sagt, wie man sich entschieden hat. Wir besprachen die Dinge, aber das Gefühl, allein zu sein, ging nie weg. Mein Freund schaffte es nicht, die richtigen Fragen zu stellen oder mich emotional so zu begleiten, wie ich es gebraucht hätte, um nicht den Verstand zu verlieren. Ich mache ihm keine Vorwürfe, oder nur indirekt, weil ich weiss, dass er einfach zu unfähig war und das ist nicht (nur) seine persönliche Schuld, sondern eine politische. Er war lieb und er war da, aber er war auch unnütz und es machte mich wütend, ganz allein in diesem Körper zu stecken.
Wir gingen zum Frauenarzt, ein gut aussehender Typ mit eisigen Augen und Dr.-House-Ausstrahlung. Mein Freund kam mit und der Arzt zeigte uns YouTube-Videos von Verhütungsmitteln und fragte mich, ob sein Praktikant bei meiner Untersuchung dabei sein durfte, damit er «so etwas» auch mal sehen könnte. Ich willigte ein, weil mir wirklich alles mittlerweile egal war und sich nichts mehr hätte schlimmer anfühlen können.
Als ich dann da auf der Liege lag und mir ein kaltes, glitschiges Gerät in den Leib gedrückt wurde, schaute mir der Praktikant – etwa in meinem Alter – interessiert und diskret zwischen die Beine und auf den Monitor. Ich bereute, zugesagt zu haben. Auf dem Monitor war eine kleine Bohne zu erkennen und irgendetwas, das pochte. Damals dachte ich, dass es der Herzschlag sei. Ich war entsetzt und wütend darüber, dass mich der Arzt nicht auf dieses Bild vorbereitet hatte. Mein Herz war voll mit Schuldge-
fühlen, denn es war allein meine Entscheidung. Das verdammte, schlagende Herz hat so viel Symbolkraft, dass man sich nur schlecht fühlen konnte – und es ist schwer zu glauben, es wäre anders gewollt.
Einiger Jahre später erfuhr ich, dass es sich dabei nicht um das schlagende Herz, sondern lediglich um elektrische Signale handelte.
Ich bekam eine Pille verabreicht und einige Surfbrett grosse Binden mit auf den Heimweg und verkroch mich Zuhause, wo meine Mutter mich Stunden zuvor noch davon überzeugen wollte, die Bohne zu behalten.
An die Stunden und Tage danach erinnere ich mich nicht mehr. An keine Schmerzen, an kein Blut, an keine Gedanken.
Darüber kommst du in deinem Leben nicht alleine weg, sagten meine Eltern und rieten mir, danach mit einer Psychologin zu sprechen. Aber ich war nur froh, dass nun alles endlich wieder vorbei war und wollte wirklich nicht nochmal alles im Gespräch durchleben. Aber ihre Worte hallten nach: Im Leben nicht alleine darüber hinweg. Auch ihnen nehme ich das nicht übel, obwohl es natürlich eine tragische, selbsterfüllende Prophezeiung und Abtreibungslüge ist. Solche Aussagen verfestigen das Bild, das jede Person, die eine Abtreibung durchführen lässt, für ihr Leben lang damit zu kämpfen hat, weil Abtreibungen als so hochgradig unmoralisch gelten.
Und ich hatte doch recht lange daran zu nagen. Im kommenden Jahr war die Schule vorbei und ich wusste nicht recht, was ich mit mir anfangen sollte. Meine Freundinnen waren alle irgendwo in der Welt unterwegs, wie es für viele nach dem Gymnasium üblich ist. Ich arbeitete in irgendwelchen komischen Jobs und wollte wirklich nicht Teil dieser Arbeitswelt werden und dachte: Na, dann hättest du dieses mögliche Kind auch behalten können, wenn du eh nichts mit deinem Leben anzufangen weisst. Vielleicht hätte die Erzählung der glücklichen Kleinfamilie ja aufgehen können. Das einzige, was mich damals vor dem gedanklichen Abgrund rettete, war die Erinnerung an das Gefühl, das dermassen glasklar war: Ich. Will. Das. Nicht. Und ich vertraute meinem vergangenen Ich.

Später

Die Zeit verging und ich lernte feministische Perspektiven auf das Thema Abtreibung kennen, zum Beispiel, dass ein Schwangerschaftsausbruch kein Trauma auslösen muss und dass meine Angst vor Einsamkeit nicht ungerechtfertigt war.
Das war gut, denn ich schaffte es irgendwie, vier Jahre später, in eine ähnliche Situation zu geraten. Wer das nicht von sich selbst kennt, muss denken, dass ich absolut unfähig bin und das ist ok. Mir ist es selbst ein Rätsel und vermutlich bin ich auch teilweise unfähig oder das Universum will dringend, dass ich mich reproduziere.
Tatsächlich ist es aber einfach dumm gelaufen, das Kondom ist abgerutscht, ich habe wieder keine Pille danach genommen – obwohl ich es mir überlegt hatte – und war wieder die einzige der Beteiligten, die den Schlamassel ausbaden musste. Leider kann ich mich nicht mehr an den Grund erinnern, wieso ich diese verflixte Pille nicht genommen habe, vermutlich war es aber die schlechte Erfahrung mit den Leuten in der Bahnhofsapotheke, zu der man muss, wenns am Wochenende passiert. Und es passiert doch meistens am Wochenende.
In dieser Apotheke stand ich einmal, in einer ähnlichen Situation, den Typen im Schlepptau, der gelassen dreinzuschauen versuchte und irgendwelche Handcremes im Regal betrachtete, während ich in der Schlange stand. Als ich nach der «Pille danach» fragte, rief die Apothekerin ihrem Kollegen zu: Hey, hier die 36. Person heute. Ich solle mich auf einen der Stühle setzen, die offensichtlich dazu da waren, sich in Grund und Boden zu schämen.
Ich entschied mich also vier Jahre nach meiner ersten Abtreibung dazu, nicht in die Apotheke zu fahren und mich nicht beschämen zu lassen. Einige Wochen später: Positiver Schwangerschaftstest. Mein Kopf wurde ganz klar und die Panik hielt sich in Grenzen. Ich überlegte einige Tage umher, heulte, sprach mit dem neuen Freund und dem möglichen Vater dieses möglichen Kindes. Er sagte ähnliche Sachen wie der Freund davor aber doch mit einer klaren Tendenz zu: Abtreibung. Er sollte bald anfangen zu studieren und ausser einem gelegentlichen Anflug von Romantik war die Sache eigentlich klar.
Auch ich verwarf den Gedanken, mit diesem Mann ein Kind gross zu ziehen ziemlich bald, weil er emotional unfähig war und wir uns dauernd stritten.
Die gleiche Prozedur also von vorne: ab zum Frauenarzt, diesmal alleine. Ich wohnte mittlerweile in einer anderen Stadt und der Arzt bei diesem Mal gab einem ohne Worte zu verstehen, dass man sich schlecht fühlen sollte. Vielleicht auch deshalb, weil ich kurz davor bei ihm gewesen war, um meine erste Geschlechtskrankheit loszuwerden, die ich übrigens von dem selben Typen hatte, der mich gerade geschwängert und offensichtlich noch mit anderen Personen Sex hatte, wovon ich nichts wusste.
Dieses Mal gab es keine Surfbrett-Binden mit auf den Heimweg, die müsse ich mir selbst besorgen, hiess es. Ich schluckte also noch einmal diese Pille und verbrachte unglaublich schlimme zwölf Stunden alleine Zuhause. Die Schmerzen brachten mich zum kollabieren, Schmerzmittel hatte man mir keines mitgegeben und da ich mich an keine Schmerzen beim letzten Mal erinnern konnte – vielleicht hatte ich sie verdrängt – war ich auch nicht darauf vorbereitet. Meine Mitbewohnerin würde erst in ein paar Stunden nach Hause kommen und der Typ, der mich geschwängert hatte, fand es wichtiger, an den Einführungstag seines Kunststudiums zu gehen, als mich bei unserer Abtreibung zu begleiten. Ich hasste es, alleine in diesem Körper zu sein.
Die Schmerzen hörten irgendwann auf und ich ging an einen Anlass in meiner Hochschule, als mir plötzlich ein blutiger Zellklumpen in die Unterhose fiel. Ich erschreckte mich zu Tode, als ich das weiche Ei aus Zellen in der Unterhose fand und wickelte es in Klopapier ein. Zuhause steckte ich es in den Gefrierer, weil ich mich nicht traute, es in den Müll zu werfen. Mich hatte die Sentimentalität wohl noch nicht ganz verlassen.
Das ist nun Jahre her und der Zellklumpen liegt immer noch in meinen Gefrierer.
Kürzlich musste ich – seit Jahren – mal wieder los um die «Pille danach» zu holen. Der Unfall war nur gering und ich sollte in den nächsten Tagen meine Periode kriegen, aber der Moment, in dem ich feststellte, dass das Kondom vielleicht auch nur ein bisschen verrutscht war, löste Panik in mir aus. Natürlich war es wieder Wochenende und es grauste mir davor, in diese beschämende Bahnhofsapotheke zu müssen.
Dem Typen, der übrigens der selbe ist, der für die zweite Schwangerschaft verantwortlich war, schien die Aussicht auf meine mögliche Periode zu reichen. In mir kam aber die alte Angst hoch, die ich wirklich nicht tagelang aushalten wollte. Als ich darüber sprechen wollte, sagte er, er wolle sich jetzt auf den Abend einstimmen und ein bisschen Techno hören, es sei doch alles ok. Er wurde ganz unruhig darüber, dass der Abend nun vielleicht im Eimer sein könnte und starrte auf seinen Handybildschirm um den passenden Song zu finden, während er mir versicherte, zuzuhören.
Zwei Tage später ging ich alleine in die Apotheke, nicht in die am Bahnhof. Ein junger Apotheker mit warmem Blick und beruhigendem Akzent beriet mich. Ich sagte ihm, dass es unwahrscheinlich sei aber ich trotzdem Angst hätte. Er guckte mich verständnisvoll an und sagte: Wir können in unserem Leben auf Wahrscheinlichkeiten setzen oder etwas dafür tun.

Von anonyme Schwester

Die anonyme Schwester ist freie Autorin. Sie möchte lieber unerkannt bleiben, nicht, weil sie sich für ihre Abtreibungen schämt – sondern weil diese Details nicht alle über ihr Privatleben wissen müssen.

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