Wird Aktivismus zur Lebensaufgabe, ist Stress vor-programmiert – oft mit schwerwiegenden Folgen. Auch Tanja Walliser, Mitgründerin von Empathie Stadt Zürich, war einst von einem Burnout betroffen.
«Früher kompensierte ich meinen Weltschmerz, indem ich mich 24/7 engagierte. Als privilegierte Person fühlte ich mich schuldig, also fand ich es nur richtig, dass ich über meine Grenzen gehe», sagt Tanja Walliser. Ihre Erinnerungen wirken noch frisch, obwohl es bereits sechs Jahre her ist, seit sie am Stress fast zerbrochen ist. Heute setzt sie sich dafür ein, dass darüber gesprochen wird. Viele, oft sehr junge Menschen, würden sich in der gleichen Situation wiederfinden, ist sich die heute 35-Jährige sicher. Denn Aktivismus ist für sie viel mehr als Transparente malen oder an Demos gehen. Es ist ein Kampf gegen den Rest der Welt; David gegen Goliath. Und: Aktivismus ist in vielen Fällen ein Vollzeitjob – neben Schule, Arbeit oder Studium. Eine gefährliche Kombination, warnt auch der Experte Erich Scheibli.
Zu hohe Erwartungen, zu wenig Erholung
Das Phänomen der ausgebrannten Aktivist*innen scheint auf den ersten Blick relativ jung – zumindest im deutschsprachigen Raum. Unter dem englischen Begriff «activist burnout» hingegen findet man etliche Studien dazu. Bereits in den frühen 90er-Jahren wurde in den USA dazu geforscht. Im Jahr 1994 schrieb die Psychologin Ayla M. Pines in einem Forschungsbericht «Burnout im politischen Aktivismus» davon, dass viele Menschen erwarten würden, das Gefühl einer «existenziellen Bedeutung» durch ihre Arbeit zu bekommen – dasselbe gelte auch für politische Aktivist*innen. Gemäss der Meinung der Forscherin ist beides nicht unproblematisch: «Diese Menschen versuchen, aus ihrer Arbeit oder ihrem politischen Engagement einen Sinn für ihr ganzes Leben abzuleiten. Wenn sie denken, dass sie versagt haben, brennen sie aus», fasst Pines zusammen.
Es würde keine Rolle spielen, ob eine Person aufgrund von Stress bei der Arbeit oder wegen ihrem ausgeprägten Engagement an einem Burnout erkrankt, erklärt Erich Scheibli vom Schweizer Expertennetzwerk für Burnout. Die Gründe dafür seien oft dieselben: Zu hohe Rollenerwartungen, Versagensängste, mangelnde Erholungs-phasen, Machtlosigkeit. Gerade letzteres bringe in Zeiten von Klimakrise und Pandemie ein erhöhtes Risiko mit sich. «Eine globale Bedrohung kann bei vielen Menschen ein Gefühl der Ohnmacht auslösen. Das hat auch mit der eigenen Rollenerwartung zu tun: Je mehr ich mir vornehme, desto höher ist die Gefahr, dass ich die Erwartungen nicht erfüllen kann», so Scheibli. Diese Diskrepanz gilt unter Expert*innen als klassischer Burnout-Auslöser.
Bis zum Crash
Auch Tanja Walliser kennt das Gefühl, den Ansprüchen nicht zu genügen. Mit 25 Jahren beginnt sie für eine Gewerkschaft zu arbeiten, leitet Kampagnen, trägt viel Verantwortung. Trotz 80 Prozent-Pensum ist sie ständig erreichbar: «Meine Arbeit war mein Leben», erinnert sie sich. Ihr Umfeld habe sie immer wieder darauf aufmerksam gemacht, wie viel sie doch arbeite, wie «crazy committed» sie sei. Auch ein Hörsturz reicht nicht aus, damit die damals 29-Jährige realisiert, dass es ihr längst zu viel ist. Erst als bei einer Werbeaktion an der Zürcher Bahnhofstrasse ihr Körper streikt, merkt sie, dass etwas nicht in Ordnung ist: «Ich konnte keinen Schritt mehr machen und bin in Tränen ausgebrochen – ich war wie gelähmt.» Ihre Chefin bringt sie in die Psychiatrische Notfallklinik in Zürich, die sie nach 30 Minuten mit der Diagnose «leichte Depression» und einem zweiwöchigen Arbeitsunfähigkeitszeugnis wieder verlässt.
Für Scheibli ist die Geschichte von Walliser ein Exempel einer Burnout-Erkrankung: «In den meisten Fällen bemerken die Betroffenen erst viel zu spät, dass sie einer zu hohen Stressbelastung ausgesetzt sind.» Das habe auch damit zu tun, dass es ein schleichender Prozess sei. Gemäss dem Experten ist Burnout ein Risikozustand, «ständig auf der Kippe zu einer Depression.» Körperliche Beschwerden würden erst dann auftreten, wenn man bereits ausgebrannt sei, so Scheibli. Einer der Gründe, weshalb laut seinen Aussagen eine Diagnose für Mediziner*innen schwierig frühzeitig zu erkennen und zu stellen ist. Ein weiterer habe mit der mangelnden Objektivierbarkeit zu tun.
Die Krux mit der Diagnose
Erst vor zwei Jahren liess die Weltgesundheitsorganisation (WHO) die Kriterien für eine Burnout-Diagnose in ihrem internationalen Klassifikationssystem der Krankheiten, kurz ICD, überarbeiten. Auf Anfang 2022 werden diese in Kraft treten. Tatsächlich stammt die bisherige Version noch aus den 80er-Jahren und beschreibt ein Burnout lediglich als «Zustand der totalen Erschöpfung». Eine Definition, die zu kurz greife, findet Scheibli. Im neuen Text des ICD-11, werden deshalb auch die Merkmale einer mentalen Distanz von oder negative Gefühle bezüglich der Arbeit und reduzierte berufliche Leistungsfähigkeit berücksichtigt. Als eigenständige Diagnose wird ein Burnout aber auch dann nicht gelten, er bleibt eine mögliche Ergänzung in der medizinischen Dokumentation.
Bezieht sich der Begriff Burnout also nur auf Ereignisse im Arbeitskontext? «Jein», antwortet Scheibli, «es ist stets eine Kombination aus einer extremen Stressbelastung und fehlender Erholung. Und das ist vor allem aus dem Berufsleben bekannt.» Ausschlaggebend sei in erster Linie jedoch eine Mehrfachbelastung – und diese könne auch bei Elternteilen, die neben dem Job noch den Haushalt schmeissen, oder bei Jugendlichen, die sich neben der Schule sozial engagieren, zu einem Burnout führen.
Nichtsdestotrotz ist in der Statistik des Bundesamtes für Gesundheit (BAG) stets vom «Stress am Arbeitsplatz» die Rede. Zahlen aus dem Jahr 2017 zeigen: Rund 21 Prozentder Erwerbstätigen in der Schweiz leiden oft unter Stress; fast die Hälfte davon fühlt sich bei der Arbeit emotional erschöpft. Das wiederum hat laut BAG ein erhöhtes Burnout-Risiko zur Folge. Es gibt keine Zahlen dazu, wie viele Menschen in der Schweiz jährlich effektiv ein Burnout durchleben. Zu schwammig ist die Diagnosestellung.
Räume schaffen und Emotionen zulassen
Auch Tanja Walliser erhielt nie die Diagnose «Burnout». Zwei Wochen nach dem Vorfall in der Zürcher Innenstadt nahm sie ihre Arbeit wieder auf. Reiste danach für drei Monate für ein Praktikum in die USA. Für sie sei das heilsam gewesen, «doch kaum war ich zurück, fiel ich in alte Muster zurück.» Erst als sie sich intensiv mit ihren Gefühlen auseinandersetzte, sich mehr Achtsamkeit lehrte, erkannte Walliser, dass sie ihr aktivistisches Engagement zurückschrauben muss. «Es war ein langer Prozess. Und heute weiss ich, dass der Grund für meine Aufopferung vor allem damit zu tun hatte, dass sich in mir viel Wut und Trauer angestaut hatte. Seit meinen frühen Teenager-Jahren kanalisierte ich all diese Emotionen in den Aktivismus», so die Zürcherin.
Damit andere junge Menschen nicht dasselbe durchmachen müssen, hat sie zusammen mit der Psychologin Sonja Wolfensberger das Projekt «Empathie Stadt Zürich» gegründet. An ihren Workshops lernen die Teilnehmer*in-nen nicht nur, wie man gewaltfrei kommunizieren kann, sondern auch die eigenen Emotionen besser zu verstehen. Für Walliser ist aber auch klar: «Organisationen haben eine grosse Verantwortung: Sie müssen Räume schaffen, wo über Gefühle gesprochen werden kann. Wo es einem auch mal schlecht gehen und zusammen geweint werden darf.» Der Burnout-Experte Scheibli geht sogar noch einen Schritt weiter: «Das Umfeld nimmt bei Risikopatient*innen eine entscheidende Rolle ein, sie müssen ihnen die Hand reichen – egal, ob als Familie, Freund*in, Arbeitgeber*in oder Mitaktivist*in.» Prävention müsse nicht nur auf individueller, sondern auch auf kollektiver Ebene erfolgen. Gegen den Weltschmerz hingegen wirkt laut ihm nur eines: Bescheidenheit.