Marx bemerkte irgendwo, dass Menschen «ihre eigene Geschichte» machen. Aber sie würden «sie nicht aus freien Stüc-
ken» machen, «sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen.» Wenn sie dabei die «Geister der Vergangenheit» heraufbeschwören, so diene diese «Totenbeschwörung» in bestimmten Revolutionen dazu, «den Geist der Revolution wiederzufinden, nicht ihr Gespenst wieder umgehen zu machen». Wenn sich die Linke an dem kulturindustriell gebotenen Spiel der Jubiläen beteiligt, so muss sie sich fragen, zu welchen Zwecken und welchen Zielen das Bild der Vergangenheit heraufbeschworen wird. Das Gespenst der russischen Revolution von 1917 hat 2017 zu wenig neuen Erkenntnissen über kommende Revolutionen, aber zu viel Reflexion über seine Historizität geführt. Ähnliches steht für die Kulturrevolte um 1968 zu befürchten. 1998 brachte Ingrid Gilcher-Holtey ein Sonderheft zu «Geschichte und Gesellschaft» heraus, das sich mit 1968 und seinen Folgen beschäftigte. Noch einmal zehn Jahre später ist diese Anthologie unter dem Titel «1968 – vom Ereignis zum Mythos» bei Suhrkamp erschienen. Droht nach fünfzig Jahren die Chiffre «1968» zum Mythos verklärt zu werden?
«Ein ‹linker› Umgang mit dem Mythos definiert sich klassisch durch die Weigerung, die Irreversibilität in der Verflochtenheit und Selektiertheit der je vorgefundenen Erzählungen naiv oder strategisch hinzunehmen», schrieb Johannes Ullmaier in der Popkultur-Anthologie testcard #12 über «Linke Mythen». Er fügte hinzu: «‹Links / ‹Die Linke› ist selbst bloß ein Mythos.» Da ein Mythos nichts anderes als eine bestimmte überlieferte Erzählung ist, muss eine linke, d. h. emanzipatorische Kritik diese Erzählung sowohl kennen als auch eine Gegenerzählung etablieren können. Denn 1968 wurde zu einer Zäsur verdichtet. Diese markiert Tendenzen, die wie das Aufkommen der westlichen Pop- und Jugendkultur, schon weitaus früher einsetzten. Ähnliches gilt für die Proteste, die zu einer Durchdringung aller politischen, kulturellen und ökonomischen Sphären durch das Ereignis 1968 führten. Doch im Angesicht dieser Zäsur darf man auch nicht verschweigen, wie beinahe jegliche subkulturellen, subersiven, dissidenten, provokanten, rebellischen, radikalen, revolutionären, aber teilweise genauso regressiven und reaktionären Ideen, Strategien, Events und Aktionen und ebenso Artefakte und Produkte von einer Kapitallogik durchdrungen und von ihr einverleibt wurden. Das Grimmsche Wörterbuch kannte Protest noch als «gegen etwas und dessen folgen eingelegte Verwahrung». Eine Google-Suche weiss aus dem ersten Treffer: «Protest» ist gegenwärtig eine Skijacke.
Der absteigende Pfad der Revolte
Mit jedem Jubiläum steigert sich der Kampf um die Deutungshoheit eines Ereignisses. Gleichzeitig fördert dies meist tiefere Erkenntnisse über die Gegenwart zutage als über die Vergangenheit: Das Ereignis dient wahlweise zur Vereinnahmung oder zur Abgrenzung. Fast ausschließlich wird die Revolte als Ausgangspunkt des von Gerd Koenen so titulierten «roten Jahrzehnts» gelesen. Wenn «1968» auf einzelne Ereignisse und Folgen reduziert wird, geraten Differenzen genauso wie wesentliche Errungenschaften aus dem Blick. Dieser wird wahlweise auf die Radikalisierung in Form des westeuropäischen Terrorismus oder auf die Liberalisierung mit dem sogenannten «Marsch durch die Institutionen» verengt. Beide Tendenzen, der bewaffnete Kampf wie die bürgerliche Kulturrevolte, haben ihren Ursprung in der Neuen Linken. Ebenso fanden sich in der antiautoritären Bewegung autoritäre Charaktere, die wie Horst Mahler oder Frank Böckelmann später ihre Wende nach rechts vollzogen. Doch der Großteil der europäischen Linken wurde auf ihrem Weg von Demonstrationen gegen Vietnam oder für Hochschulreformen durch maoistische und trotzkistische K-Gruppen, Hausbesetzungen, Sponti-Dasein hin zu Bürgerinitiativen und Kinderläden eben weder Außenminister, die mit Auschwitz Kriegseinsätze legitimierten, noch Herausgeber rechtskonservativer Postillen, sondern Erzieherinnen, Lehrerinnen, Professorinnen oder Kulturredakteurinnen. Deren «Marsch durch die Institutionen» war der Effekt einer in erster Linie bürgerlichen Kulturrevolte, deren Ergebnis Albrecht von Lucke 2008 als «neues Biedermeier» beschrieb, aber auch als den «Beginn gesellschaftlicher Emanzipation und politischer Partizipation». Doch anders als in Frankreich blieb die Revolte von 1968 in den meisten westeuropäischen Ländern auf die Studentenproteste beschränkt. Die Arbeiterinnenklasse kommt in der hegemonialen Erzählung von 1968 kaum vor. Das mag daran liegen, dass sie sich ausser für einen kurzen Moment im Mai 1968 kaum zu Protesten mobilisieren liess.
Was in der reduktionistischen Erzählung häufig ebenso wenig vorkommt, sind die zentralen Errungenschaften der Proteste und der Revolte um 1968. Die werden heute oft nur noch als unliebsames oder umstrittenes Erbe erinnert. Jutta Ditfurth führt als solche die «Frauenemanzipation und den Kampf gegen Krieg und Kolonialismus, anti-autoritäre Erziehung und Antikapitalismus, sexuelle Selbstbestimmung und Befreiung von der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen» auf.
Claus Leggewie fragte 2001, ob nun «der puritanische Gegenschlag» zu den grösstenteils ohnehin bloss reformistischen Erfolgen der 1968er käme. Tatsächlich dient eine vereinfachende und verzerrte Darstellung von «1968» der Neuen Rechten als Abgrenzungspunkt – trotz aller personellen wie strategischen Kontinuitäten, die sich von 1968 zur Neuen Rechten ziehen lassen, wie sowohl Volker Weiß in «Die autoritäre Revolte» als auch Thomas Wagner in «Die Angstmacher» nahelegen. Jedoch bildet das Gespenst von 1968 ein wirkmächtiges Konstrukt, in dem die Neue Rechte den links-liberalen Ungeist zu identifizieren meint, den sie als Chimäre so gerne bekämpfen. Es sind eineinhalb Jahrzehnte vergangen seit Leggewies Frage. Aber ja, der Gegenschlag kam. Das Gespenst von 1968 bleibt ein umkämpftes Gebiet der Gegenwart.
Die ohnmächtige Phantasie
Im Mai 1968 tauchte in Paris das berühmte Graffito «Die Phantasie an die Macht» auf. Karl Heinz Bohrer nahm es 1969 zum Ausgangspunkt seines berühmten Essays «Surrealismus und Terror» in der Kulturzeitschrift Merkur. Darin erkannte er surrealistische Tendenzen in den Flugblättern und Aktionen der deutschen Studentenbewegung APO. Er las diese als einen Versuch, die Trennung von Kunst und Leben aufzuheben, wie er auch der surrealistischen Bewegung zueigen war. Nichtsdestotrotz, schrieb er, gelte es diese Grenze aufrechtzuerhalten. Denn ihre radikale Konsequenz würde in wirkliche Anarchie münden. Bohrer nutzte seine Reflexionen über den damals wiederkehrenden (literarischen) Surrealismus zu einer Polemik gegen das von ihm als «juste milieu» betitelte, also als Mittelmaß denunzierte Gross der gesinnungslinken Literatur im Umfeld von Hans Magnus Enzensberger. Diese Debatte blieb notwendigerweise auf das literarische Feld beschränkt. 1998 resümierte Bohrer, die «nicht hoch genug zu veranschlagende Bedeutung von ’68» lag darin, dass der «zivile Staat sich in der Bundesrepublik durchgesetzt hat».
Die andere, kulturindustriell vielleicht wirksamste Entwicklung, die 1968 ihren Anfang nahm, war die Herausbildung einer globalen Gegenkultur. Im Zuge der amerikanischen Hippie-Bewegung etablierten sich Distributionswege wie Mailorder ebenso wie die großen Festivals. Beides fand seinen Einzug in die DIY-Ideologie. Doch beides wusste der «neue Geist des Kapitalismus», wie Boltanski und Chiapello den Neoliberalismus Anfang der 2000er analysierten, für sich zu nutzen. Denn nicht nur die Verteilungswege und -strategien, auch die Tugenden wie Kreativität und Flexibilität wurden dort zu Dispositiven. Entsprechend verwundert es nicht, wie das «erschöpfte Selbst» (Alain Ehrenberg), das bürgerliche Subjekt in den 2000ern darauf reagierte. Vor ca. zehn Jahren feierte die Kunst- und Popwelt das Gespenst Bartleby. Herman Melvilles Schreiber, der mit der Formel «I would prefer not to» auf die Zumutungen der New Yorker Arbeitswelt im Hochkapitalismus der Wall Street antwortete, entfaltete seine Anziehungskraft in der Geste der Verweigerung und des Sich-Entziehens. Tocotronic lieferten mit «Kapitulation» den Soundtrack dazu, welcher der Entsagung und dem Unterliegen Hochachtung verleihen sollte. Auch heute noch ist das «Haus Bartleby» als «Zentrum für Karriereverweigerung» ein (H)Ort für eine zwar notwendige Kapitalismuskritik, das aber in den (künstlerischen) Protestaktionen bestimmte Spielregeln mitspielen muss, die so gar nicht zu ihrem Namensgeber passen wollen. Auch hier ist die Durchdringung von Kunst und Leben nicht wünschenswert. Bartleby als Figur der Phantasie ist eine überzeugende Allegorie und ein Krisenphänomen. Er ist ein Signal, aber keine Lösung. Somit muss er als Figur des Protestes auf die Sphäre der Kunst beschränkt bleiben. So anziehend er erscheinen mag, so wenig überzeugend ist die Haltung des Sich-Entziehens, des Zurückziehens und der radikalen Verweigerung im Angesicht des aktuellen Backlashes. Der zunehmdene Einzug (extrem) rechter Parteien in europäische Parlamente und Regierungen liess auch gesellschaftlich gerne als Meinungfreiheit kaschiert rassistische, homophobe und antifeministische Positionen wieder präsenter werden. Wo diese Positionen auf politischer wie auf gesellschaftlicher Ebene genau jene Errungenschaften in der Nachfolge von 1968, wie etwa die sexuelle Selbstbestimmung der Frauen*, torpedieren, gilt dem entgegenzutreten.
Auf dem letzten Album von …But Alive sang Marcus Wiebusch: «Würde sagen wofür, wenn ich wüsste wogegen». Damit benannte er exakt die eigene Orientierungs- und Belanglosigkeit, für die auch die Nachfolgeband Kettcar stehen. Nicht Nihilismus, der als destruktive Geste zumindest die Option des Schaffens noch enthielte, sondern pure Resignation spricht aus diesen Zeilen. Eine Haltung, die linken Aktivistinnen im Angesicht permanenter Rückzugsgefechte sehr anziehend erscheinen mag. Die immer auch notwendige Kritik des Engagements darf aber nicht den Blick verstellen, dass dieses Engagement notwendig bleibt. Die Deutung der sogenannten Neuen Rechten, welche Erfolge die 1968er erzielt hätten, und ihre Versuche, diese Erfolge in ihrem antidemokratischen, antifeministischen und rassistischen Kampf umzukehren, müssen weiter zu aktiveren Gegenprotesten und Formen des Widerstandes führen und nicht zu einem solipsistischen Rückzug. Sowohl gegen die Rechten wie auch gegen die zahlreichen bestehenden Missstände.
So wie die Geschichte des Protestes umkämpft ist, so sind es auch die Strategien und Formen des Protestes. Die Aktionen für sich sind nie bloß links oder rechts. Das werden sie erst über ihre Inhalte. Das Setzen auf Spektakel, der Kampf um kulturelle Hegemonie, die sogenannte Metapolitik, die ausserparlamentarische Opposition – die die (Neue) Rechte längst nicht mehr ist – waren nie dezidiert linke Optionen. Künstlerische Interventionen, die daran anschließen, wie die von Milo Rau oder des «Zentrums für politische Schönheit» sind in ihrem scheinbaren Nonkonformismus in erster Linie staatstragend. Ihr Spektakel, ihre Aktionen unterscheiden sich in ihrer Ästhetik nicht wesentlich von denen der selbsternannten «Identitären Bewegung». Freilich ist daran nicht die Ästhetik das Problem. Rau und das «Zentrum» eint eine grösstenteils berechtigte Kritik der bestehenden unzumutbaren Verhältnisse. Dagegen gelingt der Rechten mit einer verkürzten Kritik eine (Um)Deutung von 1968 als negativem Mythos. Er ist Teil ihrer Untergangserzählung. Dieser Aneigung der Vergangenheit durch die Rechten gilt es, ein eigenes Bild von 1968 entgegenzuhalten. Zugleich darf dieses nicht auf Resignation oder Rückzugsgefechte zielen. So viel an 1968 zu verteidigen ist, so viel ist daran zu kritisieren – wo das Ziel gewesen sein mag, die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen abzuschaffen, so wurde es gewiss nicht erreicht. Doch sowohl in Abwandlung wie in Aneignung von 1968 bliebe an dem von dem Surrealisten Andre Breton formulierten Ziel festhalten, «eine endlich bewohnbare Welt zu schaffen».