Warum «Neon Golden» von The Notwist die beste Platte aller Zeiten ist. Warum früher alles besser war (nämlich weil jetzt alles besser ist als früher). Und warum heute niemand mehr einfach rumhängt und Popmusik hört. Oder doch?

 

Irgendwo bei Diedrich Diederichsen (oder war es Kerstin Grether?) steht, dass die interessanteren Momente der Popmusikgeschichte durch die Interferenzen zwischen Ontogenese der Fans und Phylogenese der Popmusik (welche die Fans in ihrer Ontogenese immer wieder von Neuem durchlaufen müssen!) entstehen. Oder weniger hochtrabend gesagt: Bemerkenswertes entsteht dadurch, dass manchmal etwas passiert und manche gerade dann im richtigen Alter dafür sind, und sich dies gegenseitig bedingt. Denn Popmusik wird erst mit der richtigen Rezeption komplett, und die besteht darin, dass die HörerInnen am eigenen Leibe und bei hohem Peinlichkeitsrisiko vorführen müssen, inwieweit eine Platte gute Typen (es geht bei Diederichsen ja immer nur um die Typen!) hervorbringt oder nicht. Dies wirkt zurück auf die Platte, auf den Moment, auf die Jugendbewegung – es gibt einen neuen Stamm in der Stadt, hören wir, okay, wir sind bereit, dieser Stamm zu sein. Und schon gibt es das alles wirklich!

Diese glücksbringende Konstruktion hat den Nachteil, dass in jenen kurzen Momenten, wo wir gerade richtig jung sind, um Pop zu verstehen – und ihn dadurch hervorzubringen – die Euphorie zu groß ist, um darüber zu berichten und dass im Blick zurück diese Wahrheit der Popmusik unsichtbar wird: Es sind dann nur mehr Grumpy Old Men, die von einem einzigen wahren Moment in der Vergangenheit schwadronieren, ab dem dann alles den Bach heruntergegangen ist: Punk war nur 1973 groß, mit der Gründung von SST ist Hardcore auch schon wieder vorbei gewesen und spätestens 1984 war Techno endgültig ausverkauft! Amy Winehouse, Franz Ferdinand, Lana del Rey: Alles schon mindestens zweimal da gewesen! – So mag doch niemand klingen. Doch so klingt, wer 2016 behauptet, dass «Neon Golden» die beste Platte aller Zeiten ist.

Trotzdem stimmt genau das leider. Überhaupt stimmt jede Meinung, dass früher alles besser war, aber nur, wenn sie weiß, dass das Gegenteil genauso wahr ist. Es war früher nur alles besser, weil jetzt alles besser ist als früher. Wer diese Widersprüche nicht aushalten kann, ist jetzt schon verloren auf diesen verschlungenen Pfaden, die nachvollziehen wollen, warum «Neon Golden» 2002 für uns die beste Platte aller Zeiten war.

Damals jedenfalls war sie eine Offenbarung. Zur einzig diskutablen Musik sagten wir damals Indie oder Alternative, was hiess: Gefühlsbetonte, ehrliche Gitarrenmusik, irgendwie underground und dagegen. Und im Nachhinein war schon immer klar, dass da noch etwas fehlte. Mit «Neon Golden» wussten wir auf einmal, was. Das waren Songs, die irgendwie zerfaserten, nirgendwohin liefen und doch so eingängig und zu einem Album-Guss geronnen waren, dass von den ersten, vertrackten Takten von «One Step Inside…» an (eigentlich schon beim Anblick des Rings am Cover) mit einer Schwindel machenden Sicherheit gewahr wurde: Das hier ist noch einmal anders, irgendwie verschoben, verhatscht, zarter, schwächer und härter, kälter und wärmer als das Bekannte – ein Gefühl das im Unterschied zu vielen anderen Platten der damaligen Zeit bis heute bei jedem neuen Hören wieder hoch kriecht.

Am offensichtlichsten neu und wichtig war natürlich das von Martin Gretschmann (der in unserer kleinen Fanschar aus unerklärlichen Gründen den Spitznamen «Socke» genoss) eingebrachte, damals sogenannte Frickeln: die elektronisch erzeugten und manipulierten Sounds. Dabei war dies noch nicht einmal neu: Das Vorgängeralbum «Shrink» wies bereits überdeutlich den Weg, die Überhits «Chemicals» und «Day 7» haben uns wahrscheinlich schon auf MiniDisc-Recordern durch trübe Provinzstadtschulwege begleitet. Aber wer kann das schon beweisen; es liegen ja keine Aufzeichnungen auf Datenbankservern und in sozialen Netzwerken vor. Die späten Neunzehnneunziger (die bekanntlich bis weit in die Nullziger hineinreichten) sind aus heutiger Sicht Dark Ages. Niemand hat gebloggt, Musik getrackt, Listen von Bestellungen angelegt. Vielleicht hatten wir deshalb auch so viel Zeit zum Popmusik hören und rumhängen (das macht heute aus gutem Grund auch niemand mehr, wozu denn auch, es gibt schließlich keine ECTS oder Likes dafür).

DavorTM jedenfalls gab es schon elektronische Musik und es gab Gitarrenbands und beide hatten zueinander ein Verhältnis zu haben, das darin bestand, keines zu haben. Dafür gab es Blödsinnsdebatten darüber, ob Indiebands jetzt elektronische Musik machen dürften, ob sich Elektronik handgespielter Instrumente bedienen dürfe, ob das nun Tracks oder Songs seien. Es war klar, auf welcher Seite wir schon allein grundsätzlich waren: auf der der Verhuschten, der Unreinen, der Bastler und Frickler eben, bei Notwist.

Und so wärmte uns das neue Knarzen der Computer (in einer Weise als wäre es bereits immer da gewesen) so viel herzlicher als alles bislang gekannte. – Wir konnten ja nicht ahnen, wie sehr es wie alles auf der Welt auch noch verkommen würde zum langweiligen Standard, zur Kruder-Dorfmeister-Beschallung im Kaufhaus und zur 37. immergleichen Radiohead-Platte. Gerade weil da noch Markus Achers Gesang war, genauso selbstverständlich nicht auf deutsch wie mit deutschem Akzent, dabei immer so halb daneben, abwesend und doch voll da, konzentriert und sich seiner Sache so sicher, wie einer spricht, der es gar nicht nötig hat, dass jemand zuhört, obwohl er es verdient hat, dass ihm zugehört wird, nicht von dieser Welt halt.

Denn das war der eigentliche Reiz dieser Musik für uns, die wir 2002 gerade alt genug waren, um zu fühlen, dass wir die Welt grundsätzlich ablehnten, ohne dass wir das so bezeichnen hätten können. Wir haben eigentlich gar nichts verstanden, aber klar war, dass das nicht reichte (ein Gefühl, an dem sich offen gesagt bis heute wenig geändert hat, nur dass wir gelernt haben, damit umzugehen und nicht mehr darüber zu reden). Dieses unspezifische Dagegensein war keines einer frei gewählten koketten Pose, keine schnell in Distinktionskleingeld umsetzbare Geste und längst nicht so lächerlich und inakzeptabel, wie gegen etwas sein heute wirkt. Wir waren einfach wirklich so ungenügend im Sport, im Sozialen, in Allem, dass wir beschlossen anders zu sein, nicht mehr mitzumachen. Wir hatten keine Wahl. We are ugly, but we have the music, so empfanden wir wirklich.

Da kamen die Acher-Brüder und der lange Gretschmann naturgemäß gerade recht, denn was waren das für Typen! Die waren auch entschieden daneben und schienen noch nicht einmal groß darunter zu leiden. Was für wunderbar verhuschte, lichtscheue Nerds (das Wort gab es damals wahrscheinlich noch gar nicht). Und die waren Popstars! Das war die Zukunft, Radiohead waren Fans von denen. Und – jetzt kommt es – all das aus Weilheim, einer abgelegenen, noch kleineren Provinzstadt als unser heimisches verhasstes Nest!

Es ist gar nicht mehr nachvollziehbar, in welchem Ausmaß früherTM Provinz noch Provinz war. Es gab einfach nichts. Platten brauchten Monate, wenn sie überhaupt in den einzigen Plattenladen kamen, Mailorder war auch so eine Sache und die wenigen Information, die wir in diesem sogenannten Internet zusammentragen konnten, reichten gerade aus, uns Leserbriefschreibern der Provinz das Gefühl zu geben, dass wir Entscheidendes verpassten. Und dann machen einfach welche aus einem Provinznest wie unserem die innovativste Platte ever, die uns zeigte: Es gibt mehr als das. Es gibt noch eine Welt neben der offensichtlich abzulehnenden. In dieser dürfen alle alles. «Neon Golden» schloss uns so nicht nur musikalische Welten auf, die in der 90er-Engstirnigkeit verborgen geblieben waren, sondern eröffnete uns überhaupt die Welt, die es überall auch noch gab: Plötzlich waren wir eins mit den Freaks.

Von da aus war klar, dass sofort das Notwist-Gesamtwerk beschafft werden musste. Dies war dank der rätselhaften Einkaufspolitik einer damals bei uns gerade eröffneten Drogeriekette möglich, die CDs wie «Nook» kostengünstig führte. Leider verschwand dieser Segen so schnell und unerklärt wie er gekommen war, nachdem wir diesen ersten Schub brauchbarer Musik leergekauft hatten. Es wäre nun reizvoll, zu behaupten, die alten Platten hätten sich sofort erschlossen, das Gegenteil war aber der Fall: Ich war nicht begeistert, ich war verwirrt. Ließ doch «Nook» wie «Selftitled» die als Stärke aufgeführte Schwäche (oder umgekehrt?) vermissen und bot genau den Metal-Hardcore-Rocksound, von dem uns «Neon Golden» geheilt hatte. Was für ein Glück, dass sich Fans alles schön hören können und müssen, sind nämlich die späteren Kleinode bereits im Rohen des Frühwerks angelegt, wie sich nach einigem Hören doch herausstellte.

Zuletzt muss noch bemerkt werden in unserer Geschichte (die natürlich wie jede Geschichte eine Lüge ist, während in Wahrheit alles ganz anders war), wie «Close to the Glass» 2014 rauskam. 2014: in der annähernden Jetztzeit, wo niemand mehr ein ernsthaftes Investment in irgendeine Art von Popmusik laufen hat und somit endlich wirklich alles möglich ist – und nur Einfältige glauben, dadurch sei nichts mehr möglich! In einer Zeit, in der es bleiche, weltabgewandte Jungs als Vorbilder für die Provinzjugend eigentlich gar nicht mehr braucht, weil Pop von Figuren wie FKA twigs oder Grimes (die nicht einmal mehr nur keine Typen sind, sondern vermutlich überhaupt keine Menschen mehr, nämlich mehr als das) dargestellt wird; wie «Close to the Glass» in so einer Zeit also gerade darüber sprechen kann: Es kann gleichzeitig auch noch Notwist geben, genau wie damals und besser als je zuvor. Dass wir das noch erleben dürfen: in der besten Zeit aller Pop-Zeiten zu leben. Im Blick nach vorn entsteht das Glück.

The Notwist spielen am 2. Februar in der Aktionshalle der Roten Fabrik.

Martin Fritz war Teil der 1. Innsbrucker Lesebühne «Text ohne Reiter». Veröffentlichungen in Literaturzeitschriften und Anthologien sowie «intrinsische süßigkeit» (Lyrik, Berger Verlag 2013). assotsiationsklimbim.twoday.net

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