Ich bin in Kinderheimen aufgewachsen. Das wissen nicht viele. Ist es überhaupt wichtig, das zu wissen? Welches Framing entsteht, wenn dies jemand offenbart? Als ich die Anfrage erhielt, einen Text zum Thema «Klassismus» zu schreiben, dachte ich umgehend an alle Framings, die dabei aufpoppen können. Das Benennen von Klassenunterschieden in der Gesellschaft beinhaltet nicht nur die Kritik an ihnen, sondern betont immer gleichzeitig auch Vorurteile und (vermeintliche)Grenzen zwischen Menschen. Eigentlich finde ich es aktuell viel dringlicher, die Vielfalt der Gesellschaft zu betonen – aber typisch privilegierter weisser Mann (auch eine Klasse für sich): Ich fühle mich trotzdem dazu berufen, mich zu diesem Thema zu äussern. Weil ich mich dem Thema nicht wissenschaftlich annähern kann, bleibe ich dabei möglichst nahe bei mir.
Übrigens: Meine Eltern leiteten jeweils die Kinderheime, in denen ich aufwuchs. Jetzt sieht alles wieder ganz anders aus, oder? Und trotzdem ist dieser Umstand für meinen Lebenslauf wichtig – zumindest neben so «Kleinigkeiten» wie zum Beispiel den Genen und der Sozialisation in konservativen Landgemeinden. Denn ich lernte von frühen Kindesbeinen, dass es die unterschiedlichsten Familiengeschichten und Lebensanfänge gibt. Das wusste ich nicht wie andere aus einem vielleicht etwas diverseren Freundeskreis und schon gar nicht nur vom Hörensagen. Mir wurde dies tagtäglich vor Augen geführt.
Daneben fand meine Kindheit zwischen Geigen-Unterricht und Jungschützenverein statt, zwischen Rasenmähen und Lesen von Konsalik-Büchern, zwischen Abhängen im Schafstall und Besuchen von Motocross-Rennen, zwischen dem Stauen des Bachs hinter dem Haus und dem Spielen auf dem selbstgebastelten Schlagzeug, zwischen Ballett-Unterricht und der Pflege des Naturschutzgebietes, zwischen der Teilnahme an Vogel-Exkursionen und dem Besuch des Konfirmationsunterrichts.
So gesehen hatte ich eine heile Kindheit und Jugendzeit. Was aber nicht heisst, dass alles perfekt war. Es gibt keine problemlose Kindheit und schon gar keine problemlose Jugend. Deshalb nützt es auch nicht viel, wenn ich meinen Kindern sage, dass sie global gesehen quasi den «Sechser im Geburtslotto» gezogen haben. Auch sie müssen die Klippen schaffen, die zwar vergleichsweise klein sind, aber mitten in der wilden See des Kind- und Jugendlichseins ziemlich gross erscheinen können.
Von uns vier Geschwistern schafften zwei die Matura und zwei machten eine Berufslehre. Ich wurde Landschaftsgärtner. Das entspannte mich enorm. So verspüre ich heute auch überhaupt kein Bedürfnis, dass meine Kinder unbedingt die Matura schaffen müssen. Sie gehen beide in Schulhäuser, aus denen jeweils maximal zwei bis drei pro Jahrgang den Sprung ans Gymi schaffen. So what?
Mir fällt es wirklich schwer, mich bei dieser kleinen Biografie durch die «Klassen» zu hangeln, denen ich irgendwie angehörte. Natürlich: Ich bleibe immer der privilegierte weisse Mann. So sehe zumindest ich mich. Aber in Diskussionen per se alle weissen Männer als privilegiert zu bezeichnen, finde ich dann doch sehr schwierig. Da kenne ich nicht nur aus meiner Zeit in Kinderheimen zu viele Beispiele, dass jemand nicht automatisch privilegiert ist, nur weil er ein weisser Mann ist.
Und auch wenn es Zeiten gab, in denen ich vergleichsweise prekär lebte – vor allem nach meiner Zeit als Landschaftsgärtner, als ich Kunst studierte und daneben im Gastgewerbe jobbte und Parties organisierte – so hatte ich mit meinem Familienhaus zumindest im Unbewussten immer einen relativ sicheren Hafen.
Anstelle von Klasse ist mir der Begriff Milieu lieber. Hier konnte ich in meinem bisherigen Leben aus dem Vollen schöpfen. Darauf deutete bereits die Aufzählung hin, zwischen welchen Tätigkeiten und Interessen ich meine Kindheit erlebte. Danach ging es munter weiter: Ich fuhr eines der ersten zugelassenen Elektromobile der Schweiz. Das halbe Tal, in dem ich hauptsächlich aufwuchs, nervte sich jeweils, wenn ich mit meinem «Mini-el» über die Landstrassen tuckerte und die Autos und der öffentliche Bus mich an den vielen unübersichtlichen Stellen nicht überholen konnten. So führte ich meine Aussenseiterrolle fort – die eigentlich quasi eine Klasse für sich ist – denn natürlich war ich als Junge in einer Landgemeinde, der Ballett-Unterricht besuchte, eher ein Aussenseiter. Aber nie kam es so weit, dass ich total aus dem Klassenverband ausgeschlossen oder in den Vereinen gemieden wurde. Eben: Ich hatte so gesehen eine heile Kindheit und Jugendzeit.
Ich war glücklicherweise immer so naiv, dass ich mir vorstellen konnte, eine relativ einfache Tätigkeit mit Freude bis ans Lebensende fortzuführen. Jäten fand ich zum Beispiel immer sehr befriedigend. Nicht nur deshalb, weil ich abends sah, was ich den ganzen Tag gemacht hatte. Dabei konnte ich auch philosophische Gedanken wälzen. Alleine schon der Begriff «Un-kraut» – heute würde man* es wohl Framing nennen – birgt viel Stoff zum Nachdenken. Im wilden Naturgarten gibt es zum Beispiel eingewanderte Pflanzen, die die heimischen Pflanzen verdrängen und deshalb ausgemerzt werden müssen, und in intensiv gepflegten Gärten werden umgekehrt oft diejenigen Pflanzen entfernt, die in Naturgärten geschützt werden.Das Militär – dem ich nach vier WK’s dann doch noch den Rücken kehrte – fand ich in diesem Sinne einen tollen Ort. Hier trafen Menschen (Männer) aus den unterschiedlichsten Milieus aufeinander, die miteinander auskommen und zusammenarbeiten mussten. Dies wurde durch die Uniform vereinfacht, die alle gleicher machte. Oft kam ich dabei auch in Landesgegenden und zu Übernachtungsmöglichkeiten, die ich sonst wohl eher nicht aufgesucht hätte. Es ist also manchmal gar nicht so schlecht, auf Druck von Aussen die Komfort-Zone des eigenen, vertrauten Milieus verlassen zu müssen. Natürlich wird Milieu nicht mit Klasse gleichgesetzt. So kann zum Beispiel die sogenannte Mittelschicht aus verschiedenen Milieus bestehen. Aber jetzt begebe ich mich schon wieder zu arg ins Stochern im Nebel der Wissenschaften. Zurück zu meinem Werdegang.
Was ich am Beruf des Landschaftsgärtners mochte ist, dass es eine Tätigkeit war, bei der Menschen aus den unterschiedlichsten Milieus smalltalk-mässig andocken konnten. Ob Banker*innen mit einer luxuriösen Villen-Gartenanlage oder Hauswart*innen von Grossüberbauungen, ob Eigenheimbesitzer*innen oder Landwirt*innen, ob Leute mit einem bepflanzten Balkon oder oft auch solche, die meinten, dass sie mir von ihren Topfpflanzen in der Wohnung erzählen können – mein erlernter Beruf ermöglichte es mir, mich mit vielen verschiedenen Menschen auszutauschen.
Dass ich mich bereits in meiner Kindheit durch die unterschiedlichsten Milieus hangelte, stellte sich als fruchtbarer Lernprozess heraus. Dieser bildete nämlich die Basis dafür, dass mir der Quereinstieg in gänzlich neue Branchen und Berufe relativ leicht fällt.
Nach rund zehn Jahren im Gartenbau wollte ich Kunst studieren. Dies als Folge eines missglückten Versuchs, an der Fachhochschule ein Landschaftsarchitektur-Studium zu beginnen. In diesem kurzen Lebensabschnitt spürte ich klar eine Trennstelle zweier Klassen. Denn obwohl ich eine dreijährige Gartenbau-Lehre absolviert hatte, mich in zweijähriger Weiterbildung zum Lehr- und Gärtnermeister ausbilden liess, in insgesamt acht Jahren Berufstätigkeit unzählige Gärten und andere Grünanlagen gebaut und gepflegt hatte und tausende Pflanzenarten kannte: Im Gegensatz zu jemandem, der oder die die Matura hatte und nur ein halbjähriges Praktikum in einem Gartenbau-Betrieb absolviert, musste ich zur Aufnahme fürs Studium eine Prüfung in klassischen Schulfächern absolvieren, die ich trotz relativ teurem Vorbereitungskurs nicht schaffte. Rückblickend empfinde ich dieses Scheitern als Glücksfall. Seither weiss ich auch, dass dieses System nicht per se die besten Fachleute an die Hochschulen bringt.
Vor kurzem war ich in einem kleinen Schweizer Dorf in den Ferien. Dort tauschte ich mich mit dem ehemaligen Ortspräsidenten aus, mit dem ich das Heu politisch gesehen grösstenteils nicht auf derselben Bühne habe. Aber seine Aussage, dass es unter den Entscheidungsträger*innen zu viel «Studierte» und zu wenig «Bauernschlaue» gäbe, konnte ich irgendwie nachvollziehen.
Weil mich damals die ZHdK nicht in den Vorkurs aufnehmen wollte, bewarb ich mich für denselben Kurs bei der F+F Kunst- und Medienschule. Dort steckten sie mich direkt «hoch» in die Kunstfachklasse. Parallel dazu begann ich in der Roten Fabrik, in Kellern von Mehrfamilienhäusern und später auch in den ersten Techno- Clubs Kunst-Events und Partys zu organisieren. Auch hier war es mir wichtig, beim Kuratieren dieser Club- Nächte möglichst keine Schauklappen zu tragen. Es ging mir immer darum, möglichst das ganze Spektrum des aktuellen Schaffens im Bereich Musik und Multimedia im Zeitalter des digitalen Aufbruchs aufzuzeigen.
Neben meiner Neugierde an mir unbekannten Milieus, spielte jedoch auch meine Naivität eine grosse Rolle – die in gewisser Weise auch als Arroganz ausgelegt werden kann. Denn in unseren Breitengraden gilt es oft als arrogant, sich als unbequemer Quereinsteiger anzumassen, eine Branche neu erfinden zu wollen.
Aus meiner Warte hatte die Kunst immer viel zu arg nen Stock im Arsch und die Partys empfand ich oft als viel zu oberflächlich. Mit meinen künstlerischen Club-Events begab ich mich jeweils gleich doppelt in die Aussenseiterrolle: Die Kunst-Szene belächelte grösstenteils meine künstlerischen Events und die Party- Szene empfand dieselben Inszenierungen oft als viel zu sperrig.
Und trotzdem (oder deswegen) empfahl ich mich dadurch für die Leitung des Cabaret Voltaire. Dabei war erneut eine grosse Portion Naivität im Spiel. Ich merkte nämlich erst mit der Zeit, weshalb die angesagtesten Kuratorinnen und Kuratoren der Kunstszene hier nicht zum Zug kommen wollten: Daneben, dass es nach der Besetzung ein relativ schweres Erbe war, war das Budget sehr knapp bemessen, um eine solch geschichtsträchtige Kunstinstitution angemessen zu führen. Es war unter anderem kein Geld vorhanden, um Inserate zu schalten oder Plakate aufhängen zu lassen. Ein Umstand, der wiederum die Grundlage für meinen nächsten Branchenwechsel legte, denn ich begann deshalb eine Kooperationen mit einem Vlogger und Blogger der ersten Stunde – heute würde man* ihn wohl als Influencer bezeichnen. Daneben beschritt ich mit eigenen Aktivitäten auf den damals aufkommenden Social Medias neue Wege in Marketing, Kommunikation und Community Building.
Im Cabaret Voltaire interessierte mich viel zu viel Verschiedenes, als dass ich mich auf die Förderung einer bestimmten Kunstform oder Kunstvermittlung hätte festlegen können. Neben relativ klassischen Ausstellungen und Veranstaltungen unterstützten wir unterschiedlichste Kunst- und Medienhacks und arbeiteten in einem kuratierten Shop intensiv an der Schnittstelle zwischen Kunst und Design. Letzteres führte dazu, dass ich in der Vertiefung «Style und Design» Dozent an der ZHdK wurde – rund zehn Jahre, nachdem mich die ZHdK nicht in den Vorkurs aufgenommen hat.
Als ein Teil der Finanzierung des Cabaret Voltaire wegbrach, war für mich klar, dass ich den Ort den ich als Direktor aufgebaut habe, verlasse. Meine Nachfolge übernahm der Mann, den ich zu Beginn als Mitarbeiter an Bord geholt hatte. Mit den Jahren lernte ich, immer einfacher loszulassen. So auch die Rote Fabrik, indem ich auch aus dem Organisationskomitee der Lethargy zurücktrete. Ich wollte nie ein Sesselkleber werden.
Dank der Kooperation mit rebell.tv und meinem neugierigen Austoben auf Social Media zu Zeiten des Cabaret Voltaire, setzte ich unbewusst den Grundstein für den nächsten Branchen- und Berufswechsel: Nach dem Cabaret Voltaire wurde ich Social Media Redaktor bei watson.ch. Und nach wilden zwei Jahren in diesem jungen Medien-Startup, das im hippen Kreis 5 residiert und die Branche mächtig aufrüttelte, wechselte ich zu swissinfo.ch in Bern, das als SRG-Unternehmenseinheit mit Redaktionen in zehn verschiedenen Sprachen und globaler Ausrichtung nochmals ganz anders aufgestellt ist. Dadurch bin ich nun quasi wieder irgendwo dort gelandet, wo ich zwischen Geigen- und Ballettunterricht gestartet bin. Und obwohl ich mir bei meinen Tätigkeiten oft ausmalen konnte, die aktuellste jeweils bis zu meiner Pensionierung fortzusetzen, bin ich mir trotzdem ziemlich sicher, dass das noch nicht das Ende der Fahnenstange ist, die aus dem Meer der Klassen
und Milieus ragen tut.